Die Wahrheit des Blutes
gönnte ihm die Illusion. Vögel sangen verborgen im Grün. Er fühlte sich seltsam entspannt. Nach Levys Besuch hatte er kurz durchkalkuliert, wie viel eine halbe Million in 500-Euro-Scheinen wiegen würde, und kam auf etwa ein Kilo.
Mit einer Hand ließ er die Verschlüsse des Aktenkoffers aufschnappen.
»Zurück!«, befahl Levy.
Er näherte sich seiner Beute, ohne Guillard aus den Augen zu lassen, kniete sich ins Gras und warf einen kurzen Blick in die Ledertasche. Als er sich erhob, war es bereits zu spät. Eine Spritze steckte bis zum Heft in seinem Nacken. Zwar versuchte er noch, einen Schwinger zu landen, doch er sah nur noch den Himmel. Es war vorbei.
Dreißig Milliliter Imagene. Die Wirkung trat sofort ein.
Der Polizist sackte im Gras zusammen. Sein Bezwinger warf einen Blick in die Runde. Niemand zu sehen. Er warf einen Blick auf die Uhr: Es war zwanzig vor sieben. Somit blieben ihm etwa anderthalb Stunden, um seinen Plan durchzuführen.
Seinen Gefangenen wegschaffen.
Ihn aufwecken und zum Reden bringen.
Den chemischen Eingriff vorbereiten.
Und schließlich auf dem Weg nach Hause zurückkehren, den er schon morgens benutzt hatte.
40
Dreißig Minuten später fuhr Guillard in die Box einer Tiefgarage in Rosny-sous-Bois. Da hier eine immer wieder verschobene Asbestsanierung durchgeführt werden sollte, waren die Gebäude verlassen. Die Besitzer waren entschädigt und die Fahrzeuge entfernt worden. Was blieb, war dieser vergiftete unterirdische Raum, den noch nicht einmal die Ganoven aufsuchten – aus Angst vor gesundheitlichen Schäden.
Guillard hatte ausschließlich Nebenstraßen benutzt und dabei Dienststellen der Polizei, Wohnblocks und andere häufig überwachte Brennpunkte gemieden. Das 9–3 war sein Territorium, in dem er sich mit geschlossenen Augen zurechtfand. Niemand würde ihn in diesem Labyrinth je verfolgen oder gar fassen können.
Er fesselte den Polizisten an einen Metallstuhl, dessen Beine er selbst am Boden festgeschweißt hatte. Dann verabreichte er ihm eine weitere Spritze, um ihn aufzuwecken. Während er darauf wartete, dass sein Opfer das Bewusstsein wiedererlangte, drehte er die Klimaanlage auf. So richtig schön warm sollte es werden. Das Dröhnen der Ventilatoren zusammen mit den schwarzen Mauern und der niedrigen Decke ließ an ein Unterseeboot denken, das auf Tauchfahrt zum glühenden Erdkern war.
»Was ist hier los?«, lallte Levy.
Guillard antwortete nicht, sondern kümmerte sich um die Temperaturregler. Für diese Phase seines Plans war die Nacktheit seines Gegners überaus wichtig.
»Was hast du mit mir gemacht?«
Levy hatte soeben die Infusionsnadel in seinem linken Arm entdeckt.
»WAS HAST DU MIT MIR GEMACHT, ARSCHLOCH?«
Langsam ging Guillard auf den Polizisten zu und wies mit dem Kopf auf die Spritzenpumpe, die auf einer Werkbank in der Halle stand. Levy konnte sie zwar nicht sehen, hörte aber das Surren des Motors.
»Das ist eine Salzlösung«, schrie Guillard, um den Lärm der Maschinen zu übertönen. »Damit Sie wieder munter werden.«
»Du hältst dich wohl für einen Quacksalber.«
»Ich habe die Hälfte meines Lebens im Krankenhaus verbracht. Ich bin ebenso Arzt, wie Knastbrüder Rechtsanwälte und Irre Psychiater sind. Reine Berufskrankheit.«
Levy veränderte plötzlich sein Verhalten. Als ginge er davon aus, dass sein Gegenüber verrückt war. Er begann zu lachen.
»Du fickst mich nicht in den Arsch, Schwuli.«
»Dazu kennen wir uns nicht gut genug.«
Guillard trat an die Werkbank, öffnete einen Erste-Hilfe-Kasten, der einen kleinen Sterilisator enthielt, und streifte sich Nitril-Handschuhe über. Nur die vertrug er, auf Latex reagierte er allergisch. Er öffnete den Sterilisator, aus dem ihm eine Dampfwolke entgegenschlug, und entnahm ihm eine weitere Spritze. Anschließend wählte er eine in Plastik verpackte Phiole, zerriss die Hülle und drückte die Nadel durch den Gummipfropfen.
Der Polizist, der die Vorbereitungen nicht sehen konnte, zuckte bei jedem Geräusch zusammen.
»Was machst du da?«
»Wo sind die Handschuhe?«
»Was willst du mir antun, Arschloch?«
»Die Handschuhe.«
Bullen sind hart im Nehmen. Man muss nur herausfinden, wo die Grenze ist. Guillard baute sich vor Levy auf und fuhr fort, seine Spritze aufzuziehen. Levy wand sich wie eine gefangene Schlange und schüttelte verzweifelt den Kopf.
In aller Ruhe ließ Guillard einige Tropfen aus der Spitze austreten, um Luftblasen zu vermeiden.
»Mit Spritzen kenne
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