Die Wahrheit des Blutes
hauptsächlich aus Männern. Unter diesen Machos befanden sich auch einige Polizeibeamte, mit denen er herzliche, zeitweise sogar freundschaftliche Beziehungen pflegte. Ein paar Telefonate, bei denen er sich vorgeblich nach Levys Liquidität erkundigte, hatten genügt. Zunächst blieben die Herren eher reserviert – Loyalitätspflicht –, doch schließlich lösten sich die Zungen. Jean-Pierre Levy war berüchtigt für seine Eskapaden. Er spielte, hatte Schulden und war zweimal geschieden – ein Bulle, der dem vermeintlich großen Glück hinterherjagte. Die Vorgesetzten warteten nur noch auf die richtige Gelegenheit, ihm das Handwerk zu legen.
Wie war es nur möglich, dass man seine Akte einem Kerl in derartiger Bedrängnis anvertraut hatte? Das würde wohl für immer das Geheimnis des französischen Amtsschimmels bleiben. Aber Guillard beklagte sich nicht. Bei jedem anderen Ermittler hätten ihn die Handschuhe sofort hinter Schloss und Riegel gebracht.
»Kennen Sie die Pascalsche Wette?«
»Her mit der Kohle, verdammt noch mal!«
»Wenn Sie jetzt gehen, ohne mir das zu verkaufen, was ich erwerben will, habe ich verloren. Wenn ich Ihnen jedoch das Geld gebe, Sie mich aber getäuscht haben, hätte ich ebenfalls verloren. Also seien Sie vernünftig und ziehen Sie sich aus. In zehn Minuten ist alles vorbei.«
Die Sekunden schlichen dahin. Guillard regte sich nicht und sagte keinen Ton mehr. Die beste Methode, den Willen des anderen zu brechen. Um zwei Uhr früh hatte er Levy angerufen und ihm diesen Treffpunkt vorgeschlagen: die Kuppe des Mont d’Avron in Neuilly-Plaisance, einen der wenigen hoch gelegenen Orte im 93. Departement. Das bewaldete Hochplateau öffnete sich wie ein Halbkreis zur Ebene von Saint-Denis.
Der Polizist war vermutlich sofort zum Park gefahren, um sich ein Bild vom Übergabeort zu machen. Guillard selbst kam erst gegen fünf Uhr und parkte sein Auto ein Stück entfernt. Rasch machte er Levy aus, der sich in der Nähe des Gitterzauns versteckt hielt. Gegen halb sieben schließlich verließen beide Kontrahenten ihre Schlupflöcher. Guillard schloss das Tor auf – er besaß einen Schlüssel – und führte Levy zu einem versteckten Pfad. Vor acht Uhr kam hier niemand vorbei – weder Jogger noch Spaziergänger. Ein geradezu idealer Ort für eine Übergabe.
Guillard blickte auf seine Uhr. Eine Minute war vergangen. Wort- und reglos.
Irgendwann fluchte Levy leise und begann sich zu entkleiden. Guillard wandte ihm dezent den Rücken zu und ging ein paar Schritte. Es war kühl. Der Wind raschelte zwischen Blättern, Brombeerranken und Disteln. Die weit auseinanderstehenden Bäume verliehen dem Ort einen Hauch von afrikanischer Savanne.
Nur Sekunden später hatte sich Levy seiner Schuhe, seiner Drillichweste und seiner Hose entledigt und den Holster mit der Waffe abgelegt.
Guillard widmete sich wieder der Landschaftsbetrachtung. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen eine blutig rote Morgendämmerung. Das Tal verschwand unter einer Dunstglocke aus Abgasen, die wie ein von kleinen Wellen geriffeltes Meer aussah.
Und dann geschah das Wunder. Der Grüne Strahl der Vorstadt.
Für wenige Sekunden verschwand die Tristesse der Städte im 9–3. Man sah keine Hässlichkeit, kein Elend und keine Unordnung mehr – nur noch eine spiegelnde Ebene, die sich glänzend wie ein kampfbereiter Schild unter ihnen erstreckte.
In diesem Augenblick – und nur in diesem – waren alle Hoffnungen erlaubt.
»So.«
Levy hatte nur seine Unterhose anbehalten. Er war nicht dick, aber schlaff. Ungefähr so dynamisch wie ein geplatzter Reifen. Kahlköpfig, behaarte graue Haut, bartlos.
»Wo ist die Kohle?«
Guillard antwortete nicht sofort. Sollte der Kerl ruhig noch ein bisschen schmoren.
»Haben Sie die Dinge bei sich, von denen Sie mir erzählt haben?«
»Zuerst die Kohle.«
»Aber natürlich. Einen Augenblick bitte.«
Guillard kehrte zu dem Baum zurück, unter dem er seine Aktentasche abgestellt hatte. Als er den Stamm erreichte, warf er einen kurzen Blick auf Levy. Der Polizist hatte sich seiner abgelegten Waffe genähert. Guillard wusste, dass Levy nicht schießen würde, ehe er nicht sicher war, dass er das Geld wirklich mitgebracht hatte.
Er kehrte zu dem fast nackten Mann zurück. Trockenes Gras knisterte unter seinen Schritten.
»Setz die Tasche ab und öffne sie. Aber schön langsam.«
Levy sprach im Befehlston, als hielte er seinen Gegner mit angelegter Waffe in Schach. Guillard
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