Die Wahrheit des Blutes
Persönlichkeitsprüfung gesprochen und ihr einen totalen Sieg prophezeit. Alleiniges Sorgerecht, Zugewinnausgleich, Unterhalt. Naoko hatte ihm erklärt, dass sie das alles nicht wolle, doch der Anwalt ließ sich nicht beirren. Sie musste ihm das Versprechen abnehmen, dass er jeden seiner Schritte mit ihr abstimmen würde.
Auf dem Parkplatz stellte sie den Motor ab und kreuzte die Arme auf dem Lenkrad. Obwohl der Tag kaum begonnen hatte, fühlte sie sich schon völlig erschöpft. Ihre Arbeit in diesem riesigen Büroturm, die Angst vor dem Eindringling in der Villa, die Auseinandersetzung mit Passan – alles erschien ihr plötzlich unerträglich.
Sie richtete sich auf. Und plötzlich kam ihr eine Eingebung.
Sie würde nach Tokio zurückkehren. Für immer.
Es war in zwölf Jahren das erste Mal, dass sie daran dachte.
Doch rasch verwarf sie die Möglichkeit wieder. Ihr Leben spielte sich hier ab. Ihre Familie. Ihr Haus. Ihr Beruf. Die Rückkehr nach Japan käme einer Flucht gleich. Einer Flucht vor dem Unbekannten, der sie bedrängte. Vor ihrer Scheidung. Vor Passan. Nie und nimmer würde ihr Stolz so etwas zulassen. Wenn man schon ins Ausland ging, dann kehrte man nicht ohne Arbeit und ohne Ehemann, aber dafür mit zwei Kindern zurück. Außerdem wäre sie gar nicht mehr in der Lage, den Rückwärtsgang einzulegen und sich wieder den Regeln und Pflichten ihres Landes zu beugen, nachdem sie die Freiheiten Europas kennengelernt hatte.
Die Japaner kennen eine Metapher, um dieses Phänomen zu beschreiben. Sie vergleichen sich mit Bonsais, die von ihren winzigen Schalen gleichzeitig begrenzt und gehalten werden. Sobald man sie in der freien Natur auspflanzt, breiten sie sich aus und lassen sich nie wieder in ihre Schale zurückverpflanzen.
Mit resoluten Schritten überquerte Naoko den leeren Parkplatz. Sie musste ihrem Schicksal die Stirn bieten. Hier und jetzt. Auch wenn sie dabei unterging.
Vor dem Aufzug blickte sie noch tiefer in ihre Seele und rührte an die gefährlichste Schicht. In ihrem tiefsten Innern akzeptierte sie ihren Absturz. Was konnte sie anderes erwarten?
Sie hatte gelogen. Sie hatte Dinge verschleiert. Ihre gesamte Existenz war nichts als ein Kartenhaus, das eines Tages zusammenbrechen musste.
Die chromblitzenden Türen glitten auseinander. Mit leerem Blick betrat Naoko den Aufzug.
42
»Was hältst du davon?«
»Es sieht wirklich aus wie die Einstichstellen einer Blutentnahme.«
»Wie viele?«
»Das lässt sich kaum feststellen. Die winzigen Verletzungen bleiben nur sehr kurz sichtbar. Ich kann allenfalls mit Sicherheit sagen, dass die letzten nicht älter als höchstens vierundzwanzig Stunden sind. Laut Zacchary waren in deiner Dusche etwa zwei Liter. Wenn man von etwa zweihundert Milliliter bei jeder Entnahme ausgeht, kommt durchaus einiges zusammen.«
Passan überlegte. Die Aussage des Arztes bedeutete, dass die letzte Entnahme in der Affennacht stattgefunden haben musste. Das hieß auch, dass der Eindringling schon seit Wochen unbehelligt bei ihnen ein- und ausging. Eine schreckliche Vorstellung!
Um sieben Uhr früh hatte er Stéphane Rudel aus dem Bett geklingelt. Der Gerichtsmediziner war kurz vor Schulbeginn erschienen, hatte die Kinder wortlos untersucht und bei einem Kaffee auf Passans Rückkehr gewartet, um ihm seine Diagnose mitzuteilen. Nun saßen die Männer einander am Küchentisch gegenüber.
»Aber hat der Einstich sie nicht geweckt?«, wollte Passan wissen.
»Nicht unbedingt. Möglicherweise wurde ein anästhetisierendes Gel verwendet.«
Passan griff nach der Kanne und füllte die Becher.
»Und wie sieht es mit ihrer Gesundheit aus?«
»Kein Problem. Den beiden geht es blendend.«
»Führt die Blutentnahme nicht zu einer Schwächung?«
»Nein. Die meisten Blutbestandteile regenerieren sich sehr schnell.«
»Was ist mit dem Infektionsrisiko?«
»Wie meinst du das?«
»Es könnte ja sein, dass die Spritzen nicht desinfiziert waren.«
»Das können wir untersuchen, wenn du möchtest. Allerdings müssten wir dafür wieder …«
»Schon passiert.«
Isabelle Zacchary hatte bereits alle notwendigen Untersuchungen in die Wege geleitet. Im Grunde ging Passan nicht davon aus, dass der ungebetene Gast den Kindern etwas eingeflößt oder die Blutentnahme unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt hatte. Alles deutete darauf hin, dass hier ein gut organisierter Profi am Werk gewesen war.
Dieser neuerliche Angriff hatte Passans Haltung allerdings grundlegend
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