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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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mit einiger Verspätung fiel ihm ein, dass die Linie hier oberirdisch fuhr. Ihn schwindelte. Die Mittagssonne brannte auf die Scheiben. Im Rhythmus der Bögen des Viadukts glitten Schatten über die Gesichter. Seine Hand klebte an der Haltestange. Er empfand eine Mischung aus Genuss und Furcht. Als wäre er mit seiner Beute allein auf der Welt. Gesetzlos.
    La Chapelle. Drängelei. Unmöglich, auch nur in die Nähe der Tür zu kommen. Passan stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf den Bahnsteig hinaus.
    »ENTSCHULDIGUNG!«
    Da war er. Guillard wurde von den Menschenmassen auf dem Bahnsteig vorwärtsgeschwemmt. Unsanft drängte sich Passan zwischen Leibern hindurch und schaffte es im letzten Moment aus der Bahn. Guillard war bereits auf dem Weg zum Ausgang. Die graue Kappe verlor sich zwischen den Köpfen der Leute, die sämtlich die Treppe hinunterstrebten. Passan boxte sich rücksichtslos durch. Er kam seiner Beute näher und erreichte den Boulevard de la Chapelle. Guillard schlängelte sich zwischen Autos hindurch auf die andere Straßenseite, wo sich ceylonesische Lebensmittelläden, pakistanische Basare und indische Restaurants befanden.
    Passan rannte los. Irgendetwas stimmte nicht.
    Der Mann vor ihm hatte nicht diesen hüpfenden Gang und auch kein Pflaster im Nacken. Noch ein Meter. Passan, der bereits ahnte, dass er seinem Gegner auf den Leim gegangen war, packte den Mann an der Schulter und blickte in das wie gemeißelt wirkende Gesicht eines Obdachlosen, der unter seiner Jacke einen Blaumann und ein verwaschenes Hawaiihemd trug. Guillard hatte ihm seine Verkleidung aufgeschwatzt. Der Penner hielt noch den 50-Euro-Schein in der Hand, den er soeben verdient hatte.
    Passan stellte dem Kerl, der ihn zahnlos angrinste, keine Fragen. Er trat einen Schritt zurück und stöhnte laut auf.
    Über dem Brausen des Verkehrs entfernte sich das Pfeifen der oberirdischen Metro.

45
    Irgendwie musste er den Zug wieder erreichen. Sollte er seine Polizeimarke zücken und ein Auto beschlagnahmen? Eigentlich hatte er schon genug Probleme mit seinen Vorgesetzten. Aber es gab eine andere Lösung. Nach vier Jahren auf der Wache in der Rue Louis Blanc kannte er das Viertel mit sämtlichen Straßen, Ethnien und Netzwerken wie seine Westentasche. So wusste er zum Beispiel, dass die Linie 2 eine weite Kurve um die Place Stalingrad beschreibt. Wenn er also die Rue Louis Blanc hinunterlief, die von der Place de la Chapelle schräg auf die Place du Colonel Fabien trifft, hatte er eine reelle Chance, den Zug zwei Stationen weiter wieder zu erreichen. Allerdings musste er dafür einen Zahn zulegen.
    Passan rannte zur Place da la Chapelle, wo er rechts gegen die Fahrtrichtung abbog. Geschäfte und Passanten huschten vorüber. Die Blätter der Platanen brachen Sonnenstrahlen in tausend flirrende Lichtfragmente.
    An der Kreuzung Rue Perdonnet warf Passan einen Blick nach links und konnte gerade noch sehen, wie der Zug hinter den Häusern verschwand. Und weiter! Zweite Kreuzung. Eine Brücke oberhalb des Gleisgewirrs des Gare du Nord. Die Metrotrasse verlief jetzt nicht mehr so nah. Etwa hundertfünfzig Meter zu seiner Linken. Aber er hatte aufgeholt, denn er sah bereits einige der weiß-grünen Wagen. Mit gesenktem Kopf konzentrierte er sich auf seinen Atem.
    Die Bäume rückten näher, die Giebel schienen nach vorne zu kippen, und die Fassaden wurden dunkler. Ihm war, als durchquere er ein Unterholz. Dritte Kreuzung. Rue du Château Landon. Kinder kamen aus der Schule. Über ihren Köpfen zeichneten sich die Bögen der Metrotrasse ab. Wieder ein Stück weiter entfernt. Den Zug sah er nicht. Hatte er etwa seinen Vorsprung eingebüßt? Schwitzend beschleunigte er weiter. Der Schülerlotse, der die Kinder begleitete, blickte ihm fragend nach.
    Rhythmus. Jeder Herzschlag schnitt wie mit einem Messer in seine Kehle. Sein Fieber war zur Höllenglut geworden. Die roten Einbahnstraßenschilder schienen zu pulsieren wie Warnleuchten. Zwei Straßenzüge öffneten sich wie eine Schere: die Rue du Faubourg Saint-Martin und die Rue Lafayette. Die eisernen Bögen befanden sich mittlerweile in einer Entfernung von fast dreihundert Metern. Winzig und unerreichbar. Und hoffnungslos leer. Passan blieb stehen. Seitenstiche machten ihm zu schaffen. Eine unsägliche Müdigkeit überwältigte ihn.
    Er war nicht schnell genug gelaufen. Der Zug hatte ihn abgehängt. Mit den Händen auf den Oberschenkeln stand er gebeugt und mühsam atmend auf der Straße.

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