Die Wahrheit des Blutes
Tuchjacke – beides in Grau. Nur langsam fand er seine Ruhe wieder. Nie hätte er gedacht, dass der Ritter der Finsternis solche Risiken auf sich nehmen würde. Und das trotz des Richterspruchs. Trotz der Niederlage in Stains. Trotz des Skandals am Vortag. Dass Passan ihn verfolgt hatte, erschien Guillard wie ein Vorzeichen. Der offene Kampf war nur noch eine Frage von Stunden. Passan konnte nicht mehr lockerlassen – das würde seine Kräfte übersteigen.
Er selbst lebte nur noch für die Konfrontation. Leichten Schrittes lief er über die sonnenhelle Straße. Seinen Feind in die Irre zu führen war nicht sonderlich schwer gewesen. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, meldete sich sein kühler Kopf zurück. Kaltblütig hatte er eine äußerst simple Strategie angewandt.
Vor sich erblickte er das Emblem der HSBC. Die lange schwarze Glasscheibe bildete einen Kontrast zu dem Schmutz der Bürgersteige und dem lärmenden Verkehr. Guillard musste an seine eigenen Autohäuser denken, deren dunkle, saubere Fronten sich über das Chaos der Stadt erhoben. Oasen der Ordnung und der Strenge.
Durch die Sicherheitsschleuse betrat er eine riesige nüchterne Halle. Da die Klimaanlage auf Hochtouren lief, fröstelte ihn, und er brauchte ein paar Sekunden, bis sein Stoffwechsel wieder im Lot war. An vielen Schaltern standen zahllose Menschen an. Die Größe der Filiale war ein Vorteil: Niemand würde sich hier an Jean-Pierre Levy erinnern.
Guillard stellte sich in einer Schlange an. Er war guter Laune, für seine Verhältnisse jedenfalls. Alles entwickelte sich zu seinen Gunsten. Sein Sieg über Passan befriedigte ihn. Berauschte ihn gewissermaßen.
Endlich war er an der Reihe. Der junge Bankangestellte, der dem Aussehen nach von den Antillen stammte, griff nach dem Formular, das Guillard ausgefüllt hatte, überflog es und verglich die Unterschriften. Anschließend betrachtete er das Foto auf dem Personalausweis und hob den Blick.
»Würden Sie bitte Kappe und Sonnenbrille ablegen, Monsieur?«, bat er freundlich.
»Nein.«
Um seine Weigerung zu begründen, legte Guillard Levys Polizeimarke auf den Tresen. Der junge Mann blickte sich hilfesuchend um.
»Warten Sie bitte einen Augenblick«, stammelte er schließlich und verschwand.
Aus einem der Büros trat ein Mann auf Guillard zu. Guillard starrte den Beamten unverwandt an.
»Gibt es ein Problem, Monsieur?«, fragte der Banker mit öliger Stimme.
»Diese Frage sollten Sie Ihrem Kollegen stellen.«
Der Mann lächelte. »Nicht mehr nötig. Das Problem ist bereits geregelt.« Er hielt Levys Marke in der Hand wie einen Diamanten aus den Kronjuwelen.
»Ich begleite Sie in den Saferaum«, sagte er und gab ihm auch den Personalausweis zurück.
Guillard folgte dem Angestellten. Den jungen Mann, der noch an seiner Demütigung zu knabbern hatte, würdigte er keines Blickes, obwohl er sich insgeheim mit ihm solidarisch fühlte. Guillard empfand grundsätzlich eine Art natürliches Mitgefühl für Unterprivilegierte. Er wusste, dass er dem jungen Mann einen Gefallen erwiesen hatte. Mit jeder Demütigung wurde man widerstandsfähiger. Der Junge sollte ihm eigentlich dankbar sein.
Im Untergeschoss, einer Art Höhle aus Stahl und Beton, war es noch kälter. Ihre Schritte hallten wider wie in einer Kirche. Guillard stellte sich vor, wie die Besucher andächtig ihre Hände um Geldscheinbündel falteten, fasziniert ihren Schmuck betrachteten und angesichts ihrer Aktien und Anleihen leise Gebete murmelten.
Ihm selbst war Geld nie wichtig gewesen. Wahrscheinlich hatte er deswegen so viel davon verdient. Er hatte gearbeitet, weil sein Beruf ihm Spaß machte. Alles andere war Dreingabe.
Sie erreichten den Saferaum. Der Banker schloss das Gitter auf. Die Wände waren von oben bis unten voller Schließfächer. Vor Levys Safe blieben sie stehen. Der Bankangestellte öffnete das eine Schloss, Guillard mit seinem Schlüssel das andere. Der Raum erinnerte an ein Kolumbarium. Die nummerierten Fächer hätten ebenso gut Urnen enthalten können. Und in gewisser Weise war es ja auch so: Hier wurde die Asche vieler Träume und ganzer Leben unter Verschluss aufbewahrt.
»Entschuldigen Sie.«
Der Bankangestellte hob die Stahlkassette eigenhändig aus dem Fach, überreichte sie respektvoll seinem Kunden. Anschließend führte er ihn in eine einfache, nur mit einem Tisch und einem Stuhl möblierte Kammer und ließ ihn allein.
Levy hatte die Wahrheit gesagt. Da waren die in zwei
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