Die Wahrheit des Blutes
unterschiedliche Plastiktüten eingesiegelten Handschuhe, ebenso wie die Resultate aus den Labors in Bordeaux und Straßburg. Guillard überprüfte die Papiere. Es handelte sich tatsächlich um Originaldokumente. Wahrscheinlich existierten die Ergebnisse auch in digitalisierter Form, aber niemand würde je auf die Idee kommen, sie zu vergleichen.
Guillard sichtete den weiteren Inhalt der Kassette. Sie war prall gefüllt mit Geldscheinbündeln im Wert von mehreren Tausend Euro, einigen Goldbarren, Uhren und Schmuck. Levy schien in diesem Schließfach sein gesamtes Hab und Gut aufzubewahren. Vermutlich hatte er vor, möglichst bald das Land zu verlassen. Auch eine Waffe war dabei, eine mit Laser-Zielmarkierer und Schalldämpfer ausgerüstete Sig Pro SP 2009. Genau das Richtige, falls vor der Abreise noch offene Rechnungen zu begleichen waren.
Guillard nahm die eingesiegelten Handschuhe an sich und steckte die gefalteten Ergebnisberichte hinten in seinen Gürtel. Sonst rührte er nichts an. Noch einen Augenblick verharrte er stehend vor der Kassette, betrachtete die Überreste des armseligen Lebens von Levy und verspürte eine gewisse Trauer. Levy hatte seine Tage damit verbracht, Bösewichte zu verfolgen. Doch der Kampf gegen seine eigenen Dämonen war offenbar viel schwieriger gewesen.
Plötzlich sah er sich selbst an Levys Stelle, gefangen in dem verschlossenen Raum. Empfand er nicht dieselbe Verzweiflung? Hastig setzte er sich wieder, weil er eine Krise befürchtete. Aber nein – es war einfach nur diese Trauer. Trotz des Mythos, den er um sich aufgebaut hatte, war die Verzweiflung sein ständiger Begleiter geblieben.
Und immer suchten ihn die gleichen Erinnerungen heim, damals wie heute.
»Ist alles in Ordnung, Monsieur?«
Erst jetzt wurde Guillard bewusst, dass er weinte. Wahrscheinlich hatte der Bankangestellte sein Schluchzen gehört. Guillard wischte sich die Augen und versuchte sich zu fassen. Sekunden vergingen. Als er die Tür öffnete, hatte er sich wieder im Griff. Kappe, Sonnenbrille und verschlossenes Gesicht. Der Banker nahm ihm ehrerbietig die Kassette aus der Hand. Guillard wartete, bis »sein« Safe wieder verschlossen war, ehe er sich auf den Weg nach oben machte.
Die Sonne draußen blendete. Trotz seiner Verspätung beschloss er, zu Fuß bis zur Porte de Pantin zu gehen. In dieser Gegend war Paris alles andere als eine Stadt des Lichts. Alles war hässlich. Ungepflegte Häuser, Ramschgeschäfte, Firmenschilder in scheußlichen Farben. Armselige Sonderangebote für Leute, die jeden Cent umdrehen mussten. Aber gerade in dieser Hässlichkeit und Armut fühlte Guillard sich wohl. Sie bildeten den Humus, aus dem er entstanden war.
Als er an die Handschuhe in seiner Tasche dachte, überkam ihn eine gewisse Erleichterung. Nun musste er nicht mehr befürchten, enttarnt zu werden. Im Gegenteil. Er konnte stolz auf sein Werk sein. Und er ganz allein würde darüber entscheiden, wann und wie er sich offenbarte.
Wo aber sollte er sie vernichten? Es musste ein besonderer Ort sein. Ein heiliger Ort. Diesen Handschuhen kam eine besondere Bedeutung zu. Nicht als Beweisstück, sondern eher als gleichzeitig schmerzliche und lustvolle Erinnerung. Ein Beweis für seine Nachlässigkeit – noch immer hatte er vor Augen, wie er über das Brachgelände geflohen war –, aber auch das Letzte, was von seiner engsten Begegnung mit dem Feind geblieben war. ER hatte die Prügel des »Jägers« eingesteckt. SIE jedoch hatte die Schläge vergöttert, die ihr wie eine Umarmung erschienen.
Als ein Taxi vorüberfuhr, hob Guillard die Hand. Der Wagen hielt an.
»Zum Parc de la Butte du Chapeau-Rouge.«
»Wo soll das denn sein?«
Verärgert atmete er tief durch.
»Fahren Sie zur Porte de Pantin. Von dort auf die äußeren Boulevards. Boulevard d’Algerie. Ich sage Ihnen, wie Sie hinkommen.«
47
Er ließ sich vor dem Brunnen des Parks am Boulevard d’Algérie absetzen. Auf der anderen Seite des Torgitters stellte eine nackte Frau ihre imposanten Formen oberhalb von gestaffelten Wasserbecken zu Schau, die wie flüssige Terrassen wirkten. Die Statue war die Replik einer Bildhauerarbeit, die für die »kleine« Weltausstellung 1937 geschaffen worden war.
Guillard bezahlte das Taxi und ging am Gitter entlang zum Eingang. Der Park war menschenleer. An den Hängen standen seltene Gewächse: Gingkos, Mammutbäume, Gleditschien und Trauer-Schnurbäume. Das Parkgelände war ganz im Monumentalstil der 1930er-Jahre
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