Die Wahrheit des Blutes
gestaltet – weite Flächen, symmetrische Linien und breite Treppen. Die Ordnung und die Strenge beruhigten Guillards Nerven. Die Linienführung der Anlage hatte etwas Faschistisches und Stalinistisches an sich, das ihm gefiel.
Er kehrte zu der kolossalen und doch zerbrechlich wirkenden Eva zurück. Insgeheim identifizierte er sich mit den weiblichen Statuen dieser Epoche. Breite Schultern, kleine Brüste, massige Füße – in diesen primitiven, eher assyrisch als griechisch anmutenden Formen erkannte er sich wieder. Außerdem erinnerten ihn die Skulpturen an die Titanen, die in der griechischen Mythologie getötet oder verjagt worden waren, um Platz für die den Menschen näherstehenden olympischen Götter zu schaffen.
Als er noch in die »Diebesschule« ging, war er mittwochs immer mit seinem Lieblingsbuch hierhergekommen. Er verschlang die griechischen Sagen, weil er unbewusst nach einer Rechtfertigung für seine Existenz suchte. Die Schule war für ihn die Hölle gewesen. Er wurde geschlagen. Man urinierte in sein Essen. Er wurde vergewaltigt. Trotzdem erinnerte er sich nur noch an die einsamen Nachmittage in diesem Park. Und hier stellte er sich sein Leben wie ein von vielen Jahrhunderten blank gescheuertes Relief aus Granit vor.
Natürlich hatte er sich kundig gemacht. Er hatte die Geschichte des Hermaphroditos gelesen, des Sohnes von Hermes und Aphrodite, in den sich die Nymphe Salmakis verliebt hatte. Er hatte sich über die frühen Androgynen informiert, die von Aristophanes in Platons Gastmahl erwähnt werden. Ebenso über Kainis, Tochter des Königs der Lapithen, die sich nach einem Schäferstündchen mit Poseidon als Liebesgabe erbat, ein Mann werden zu dürfen. Und dann war er auf den Phönix gestoßen.
Zunächst hatte er sich in diesem Vogel des Feuers nicht wiedererkannt. Erst nach seiner zweiten Operation und den Testosteronspritzen hatte er begriffen. Nach jeder Injektion brannte sein ganzer Körper, und er wurde wiedergeboren. Er war der Phönix. Weder Mann noch Frau. Oder beides. Autonom und unsterblich. Der Vogel hatte keinen Schöpfer, kein Geschlecht und zeugte sich selbst durch die Flammen, die sowohl sein Grab als auch seine Wiege waren. Er brauchte niemanden. Er war alles.
Später las er weitere Bücher und erhielt die Bestätigung. Er war der Erbe des roten Vogels, der in Griechenland aus seiner Asche wiedergeboren wurde, aber auch der des ägyptischen Phönix, des großen Adlers mit den Feuerfedern. Der des Simurgh der persischen Mythologie, des Nan Fang Zhu Que der chinesischen Kosmogonie, des indianischen Donnervogels und des Minka-Vogels der Aborigines. Alle diese Raubvögel aus den unterschiedlichsten Kulturen bildeten seinen Stammbaum.
Guillard blickte sich um. Keine Menschenseele. Mit dem Rücken zum Verkehrslärm kniete er nieder, zog die Handschuhe aus der Tasche und beträufelte sie mit Spiritus aus einer Flasche, die er mitgebracht hatte. Sein Zippo besorgte den Rest. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich die beiden Beweisstücke in zwei fasrige schwärzliche Fetzen verwandelt.
Auch die Laborberichte verbrannte er. Dann schloss er die Augen und sandte seiner Gottheit ein Gebet.
»Ich wurde im Zeichen des Ekels und der Verleugnung geboren. Aufgewachsen bin ich in einem Strom von Beleidigungen und Unrat. Es war die Not, die zu meiner Größe geführt hat – genau wie Christus. Das Martyrium hat mich erschaffen und mich über mich hinauswachsen lassen. Ich bin die Einheit. Ich bin das Feuer und der Friede, der Tod und das Heil.«
Er verstreute die Asche im Wasser und erhob sich. Genau in diesem Augenblick verdunkelte eine Wolke die Sonne. Das Licht verschwand. Alles wurde dumpf und silbrig, wie bei einem aufziehenden Gewitter. Guillard hörte keinen Verkehrslärm mehr. Stattdessen vernahm er die Deklamationen eines antiken Chors. Er spürte die Elektrizität in der Luft. Seine Fingerspitzen kribbelten.
Er blickte auf die Uhr. Schon eins. Er würde das Mittagessen mit dem Personal versäumen.
Schulterzuckend tat er das Problem ab. Das alles spielte keine Rolle mehr. Sein Rachefeldzug neigte sich seinem Ende zu.
48
Als Passan im zweiten Stock aus dem Aufzug stieg, wartete Fifi bereits auf ihn.
»Das musst du dir unbedingt anschauen«, sagte er und reichte Passan ein zusammengefaltetes Papier.
Es war eine Karte vom Südosten Frankreichs. Provence, Languedoc-Roussillon und Rhône-Alpes. Die Orte, wo Guillard gelebt hatte, waren grün eingekreist. Und dann gab es
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