Die Wahrheit des Blutes
Sie wollte sicherstellen, dass er in der Lage war, sich um die Kinder zu kümmern.
Bei diesem Gedanken schnürte sich seine Kehle zusammen. Für sie war er einfach nur ein verprellter Mörder, der nichts in der Welt der gesunden und normalen Menschen zu suchen hatte.
»Machen Sie weiter, Herr Doktor.«
Der nächste Schnellhefter. Alles war sorgfältig zusammengestellt. Ansteigend, wie ein Crescendo. Verblüfft erkannte Passan die Akte Patrick Guillard. Und zwar nicht die des Verdächtigen, sondern die des Anklägers.
»Ein Mann, den Sie verdächtigen, hat Sie zweimal angezeigt.«
»Ich verdächtige ihn nicht nur, er ist schuldig.«
»Aber er befindet sich in Freiheit.«
»Nicht mehr lange.«
Duclos überflog die zusammengehefteten Papiere. Gerichtsunterlagen, das Unterlassungsurteil, die Anklage. Naokos Anwalt hatte offenbar gute Beziehungen. Eine Hoffnung keimte in Passan auf: Vielleicht war es ja doch nicht sie gewesen, die ihm die Unterlagen besorgt hatte.
»Er bezichtigt Sie der Nötigung und behauptet, Sie hätten ihn töten wollen.«
»Er lügt. Die Ermittlungen gehen weiter.«
»Ohne Sie. Der Fall wurde Ihnen entzogen.«
»Wenn Sie schon alle Antworten wissen, warum stellen Sie mir eigentlich Fragen?«, erkundigte sich Passan, der unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.
»Haben Sie in letzter Zeit Drohungen erhalten? Gab es Vorkommnisse in Ihrem Haus?«
Passan brachte es nicht fertig, seine Überraschung zu verbergen. Offenbar hatte Naoko auch dies ihrem Anwalt anvertraut.
»Was hat das mit meiner Scheidung zu tun?«
»Will sich jemand an Ihnen rächen?«
Passan beugte sich über den Tisch. Die Waffe lag noch immer zwischen ihnen. Der Lauf war auf den Psychiater gerichtet.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Könnte es die Rache von jemandem sein, den Sie brutal behandelt oder versehentlich festgenommen haben?«
Die Fragen des Arztes folgten jetzt immer schneller aufeinander. Der Mann hatte Angst, aber er wich nicht zurück. Er hatte schon ganz andere Dinge erlebt. Passan hing in den Seilen. Während er sich noch auf den nächsten Angriff vorbereitete, erhielt er einen unerwarteten Schlag in die Magengrube.
»Die Bedrohungen könnten wieder zu einer Annäherung zwischen Ihnen und Ihrer Frau führen.«
»Wie bitte?«
Der Psychiater nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er schwitzte, genau wie Passan. Die Klimaanlage schien den beiden Kontrahenten nicht zu helfen.
»Sie wollen sich nicht wirklich scheiden lassen. Die Drohungen könnten Ihrer Rolle in der Paarbeziehung einen neuen Sinn verleihen. Den eines Beschützers.«
Passan krallte sich an den Tisch. Er hatte den Eindruck, als versinke sein Stuhl in den Boden.
»Wollen Sie mich etwa beschuldigen, das ganze Durcheinander selbst arrangiert zu haben?«
»Die Idee stammt nicht von mir.«
»Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?«
Duclos sackte bleich auf seinem Stuhl zusammen. Passan sprang auf den Konferenztisch, griff nach seiner Waffe und warf sich auf den Psychiater. Sie rollten auf den Boden.
Er hielt die Pistole an den Hals des Arztes.
»Wer hat das behauptet, Arschloch? WER?«
»Der Anwalt Ihrer Frau. Sie war es, die …«
Passan lud.
»MISTKERL!«
Weiter kam er nicht. Vom Lärm alarmiert warfen sich Fifi und noch ein paar andere Kollegen auf ihn und entwaffneten ihn.
50
Jean-Pierre Levy hing unbeweglich auf seinem Stuhl. Nicht einmal das grelle Licht ließ ihn zusammenzucken. Sein Zustand war keine Folge der Infusion, sondern die der Dunkelheit und Hitze. Noch immer pustete der Ventilator glühend heiße Luft in den Raum.
Guillard näherte sich. Levy triefte vor Schweiß. Sein ganzer Körper glänzte wie eine Rüstung. Der Phönix lächelte nur und überprüfte die Spritzenpumpe. Fast anderthalb Liter Flüssigkeit befanden sich bereits im Organismus des Polizisten, und Levy hatte etwa die Hälfte davon wieder ausgeschwitzt. Er war bereit.
Mit wenigen Handgriffen entkleidete sich Guillard und legte sein Gewand an. Der Stoff war leicht und fühlte sich angenehm an. Einen Spiegel brauchte er nicht. Er wusste, dass er mit seinem kahlrasierten Schädel und der orangefarbenen Robe wie ein buddhistischer Mönch aussah.
Er rüttelte Levy, der nach und nach wieder zur Besinnung kam und zu begreifen versuchte, warum er an einen Eisenstuhl gefesselt in einer Betonzelle aufwachte. Als er den Mann entdeckte, der reglos vor ihm stand, lachte er laut auf.
»Lach nicht«, sagte der Phönix. »In antiken Zeiten kleideten sich
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