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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und psychiatrischen Gutachten und Beurteilungen, die seine Vorgesetzten jeweils zu unterzeichnen hatten. Die Polizei funktionierte ähnlich wie eine Schule – mit Noten, Einschätzungen und Punktevergabe. Ein System, das er hasste.
    »Während Ihrer Zeit beim Einsatzkommando haben Sie mehrfach Ihre Waffe benutzt.«
    »Ich habe während eines Einsatzes zwei Männer niedergeschossen. Das wollten Sie doch hören, oder?«
    »Was haben Sie in diesem Augenblick gespürt?«
    Passan lachte auf.
    »Sie kommen ein paar Tage zu spät, mein Lieber. Die Sache ist zehn Jahre her. Danach habe ich alle möglichen Tests, Befragungen und Bewertungen über mich ergehen lassen müssen, die übrigens samt und sonders vor Ihrer Nase liegen. Man hat mich sogar zur Beerdigung eines dieser Arschlöcher geschickt, um mich auf die Probe zu stellen. O ja, ich bin auf meine Kosten gekommen. Aber ich habe es überlebt. Und verdaut.«
    Der Psychiater blieb ungerührt. Je mehr er fragte, desto sicherer wurde er.
    »Trotzdem – was haben Sie in diesem Augenblick gespürt?«
    Passan lehnte sich über den Tisch.
    »Mit meinem Diensteid habe ich mich verpflichtet, derartige Situationen zu meistern. Berufsrisiko, capisce ? Ich mache meinen Job. Punkt. Das ist alles.«
    Gleichmütig schrieb sich der Psychiater noch etwas auf, ehe er auf Passans Waffe im Gürtel deutete.
    »Tragen Sie die immer?«
    »Wie Sie sehen.«
    »Aber bei der Kriminalpolizei ist das nicht die Regel.«
    »Jedem das Seine.«
    »Was ist das für ein Kaliber?«
    Mit einer raschen Bewegung zog Passan die Waffe und legte sie auf den Tisch. Die Px4 Storm SD machte trotz ihres Polymerüberzugs ein bedrohliches Geräusch. Ein Ding wie aus einer anderen Welt, wo alles schwerer wog.
    »Beretta. Kaliber 45. Eine der leistungsfähigsten auf dem Markt. Die trug auch Leonardo di Caprio in Inception .«
    Passan sah, wie sein Gegenüber schluckte. Der Mann räusperte sich und fuhr fort:
    »Verleiht Ihnen die Waffe ein Gefühl der Macht?«
    »Wollen Sie mir jetzt etwas über Phallussymbole erzählen?«
    »Neigen Sie zur Gewalt?«
    »In meinem Job geht es um Gewalt, und ich habe ihn gewählt, um diese Gewalt zu bekämpfen. Nicht etwa, weil ich sie gut finde. Außerhalb meiner Arbeit habe ich nie die Hand gegen jemanden erhoben.«
    Erneut schrieb sich der Arzt etwas auf. Als spiele er bei einem Quiz mit. Passan entdeckte, dass sogar seine Arztrezepte in der Akte lagen. Wie weit war dieser Grünschnabel in sein Leben vorgedrungen? Und wer hatte ihm die vertraulichen Dokumente geliefert? Plötzlich begriff er, und es wollte ihn schier zerreißen: Naoko! Die Papiere stammten aus ihren persönlichen Ordnern. Wie konnte sie ihrem Anwalt nur derartige Munition liefern?
    »Ich sehe hier, dass Sie eine Zeit lang mit Antidepressiva behandelt wurden.«
    »Ja und?«
    »Warum?«
    »Ich befand mich in einem luftleeren Raum«, erklärte Passan mit rauer Stimme.
    »Hatte dieses Gefühl mit den Gewalttaten zu tun, die Sie begehen mussten?«
    »Nein. Schauen Sie sich die Daten an. Da besteht kein Zusammenhang. Es war 1998.«
    »Das Unterbewusstsein hält sich nicht an Daten. Sie …«
    Passan hob die Hand.
    »Behalten Sie Ihr Psychiatergeschwafel für sich!«
    Duclos lehnte sich zurück, hielt aber seinem Blick stand.
    »Warum brauchten Sie dieses Medikament?«
    »Ich weiß es nicht«, knurrte Passan. »Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.«
    »In Ihrem Job?«
    »In meinem Job. Und in meinem Leben. Ich fühlte mich nicht mehr in der Lage, das alles zu ertragen. Ein Tiefpunkt. Das passiert vielen Menschen.«
    Seine Verteidigung klang armselig.
    »Sie haben acht Jahre lang Psychoanalyse gemacht.«
    »Richtig.«
    »Und wie fühlen Sie sich heute?«
    »Ich habe vor fünf Jahren damit aufgehört. Mir geht es gut.«
    Duclos schwieg, aber sein Schweigen bedeutete: »Jedem seine Illusion.« Im Gegensatz zu Allgemeinmedizinern bemühten sich Psychologen offenbar immer, ihre Patienten zu überzeugen, dass sie durchaus nicht gesund waren und es auch nie sein würden. Was wiederum ihre Daseinsberechtigung infrage stellte.
    In diesem Augenblick jedoch stellte sich Passan nur eine einzige Frage: Warum hatte Naoko ihm das angetan? Wollte sie das alleinige Sorgerecht für die Kinder? Oder etwa das Haus? Die plausibelste Antwort allerdings war auch die schrecklichste: Sie hatte Angst vor ihm. Regelrechte Angst. Angst vor seiner Gewalttätigkeit. Angst vor seiner gepeinigten Seele. Vor seinen unberechenbaren Reaktionen.

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