Die Wahrheit des Blutes
priesterliche Wahrsager immer wie Frauen. Sie waren Mittler zwischen Göttern und Menschen und zwischen Männern und Frauen. Sie symbolisierten den Ursprung der Welt, also die Vereinigung des männlichen Himmels mit der weiblichen Erde.«
»Armer Irrer! Hast du die Handschuhe?«
Der Phönix sog den sauren, schwefligen Schweißgeruch des Polizisten ein, den der Luftstrom des Ventilators zu ihm trug.
»Normalerweise wagen sich Polizisten nur sehr vorsichtig in den Dschungel des Verbrechens vor«, schrie er, um das Geräusch der Anlage zu übertönen. »Nie verlassen sie den geraden Weg und das Licht. Du aber hast die Linie überschritten, Levy. Mit deinem Erpressungsversuch hast du dich auf mein Territorium begeben – an einen Ort, wo deine Gesetze keine Gültigkeit mehr haben.«
Levy zappelte auf seinem an den Boden geschweißten Stuhl herum.
»Keine Ahnung, was du da salbaderst, du Spinner. Hast du die Handschuhe, ja oder nein?«
Guillard trat einen Schritt auf seinen Gefangenen zu. Der Luftzug spielte in den Falten seines Gewandes.
»In antiken Zeiten gab es gewisse Widersprüchlichkeiten. So verehrten die Griechen doppelte Gottheiten, die gleichzeitig weiblich und männlich waren und sich allein fortpflanzen konnten.«
Levys Gesichtsausdruck veränderte sich. Entsetzen breitete sich unter dem Schweißfilm aus.
»Wirst du mich töten?«
»Trotzdem lehnte man den Hermaphroditismus bei Menschen ab. Ein Kind, das als Zwitter geboren wurde, ertränkte man entweder sofort, oder man stellte es bis zu seinem Tod zur Schau. Niemand wollte sich mit seinem Blut besudeln. Damals galt diese Missbildung als Zeichen für den Zorn der Götter.«
Mit diesen Worten beugte er sich nach vorn und riss die Infusionsnadel aus Levys Arm.
»Ich muss dir sagen: Sie hatten recht. Ich bin der Zorn Gottes.«
Levy schien plötzlich zu begreifen, dass diese Offenbarungen sein Todesurteil bedeuteten.
»Bitte, mach mich los«, stammelte er. »Hast du die Handschuhe gefunden? Lass mich gehen. Ich werde bestimmt nichts sagen. Ich habe längst alles vergessen.«
»Ich will dir noch eine letzte Wahrheit verraten, Levy, damit du nicht als Unwissender stirbst. Im antiken Griechenland praktizierten die Priester Anasyrma: Als Frauen verkleidet hoben sie ihre Gewänder und präsentierten ihre Geschlechtsorgane. Sie waren Männer und Frauen zugleich und die vereinigten Kräfte des Ursprungs der Welt.«
Er hob die safranfarbene Robe und enthüllte seine verkümmerten Geschlechtsorgane.
»NEIN!«
»Da machst du Augen, was, Levy?«
»Ich habe nichts gesehen, ich habe gar nichts gesehen.«
»Dann schau hin. Ich brauche mich nicht zu verkleiden. Ich bin von Natur aus sowohl Mann als auch Frau, doch in Wirklichkeit bin ich weder das eine noch das andere. Ich bin über das Geschlecht erhaben. Ich bin der Phönix!«
»Nein«, stöhnte Levy.
Guillard ließ das Gewand sinken und griff zur Spiritusflasche, in der noch einige Tropfen übrig waren.
»Ich habe dir Schwefel injiziert«, fuhr er fort. »Du hast stark geschwitzt. Beim Kontakt mit dem schwefligen Schweiß haben die Bakterien in deinen Talgdrüsen Schwefelwasserstoff produziert. Verstehst du?«
Levy brüllte, als könne er die Worte seines Peinigers so übertönen. Seine angstvoll aufgerissenen Augen traten fast aus den Höhlen.
»Dein Schweiß ist jetzt brennbar. ›Levy, die menschliche Bombe‹.«
Der Phönix trat einen Schritt zurück und nahm sein Zippo in die Hand. Das gute alte Zippo. Es hatte bei den Entbindungskliniken gute Dienste geleistet. Und auch bei seinen Eltern.
»NEIN!«
Der Phönix öffnete den Verschluss der Flasche und ließ das Rädchen mit dem Daumen schnappen. Ein Funke genügte. Aus dem Flaschenhals schoss eine bläuliche Stichflamme.
»NEIN!«
Der Phönix warf die Flasche zwischen Levys Beine. Sein Genital und die Schenkel fingen sofort Feuer. Bald übertönte das Prasseln der Flammen die Schreie des Polizisten. Levy wand sich auf dem Stuhl, konnte aber seine Fesseln nicht lösen – feuerfeste Bindegurte, die besten auf dem Markt.
Minuten vergingen. Der Rauch, der aus den Flammen aufstieg, wurde von dem bis zum Anschlag aufgedrehten Ventilationssystem abgesaugt. Guillard empfand kein Mitleid mit dem Polizisten. Das Brandopfer würde sein Karma ins Gleichgewicht bringen und für eine Reinkarnation in einem besseren Körper sorgen.
Besorgt war er um sich selbst.
Er stand vor dem Feuer und spürte nichts mehr. Weder Heiterkeit noch Erleichterung. Die
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