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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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kam mit ernster Miene auf sie zu. Kein Lächeln. Er wirkte um zehn Jahre gealtert. Seine Wangen waren hohl unter einem ungepflegten Drei-Tage-Bart.
    »Bist du gekommen, um die Kinder zu holen?«, fragte er misstrauisch.
    Sein ganzes Wesen strahlte eine verhaltene Gewalt, aber auch eine unendliche Müdigkeit und eine Verletzlichkeit aus, die Naoko berührten.
    »Natürlich nicht. Diese Woche bist du an der Reihe. Daran ändert sich nichts.«
    »Ich bin also an der Reihe. Manchmal frage ich mich, was für dich am wichtigsten ist – Sturheit, Stolz oder Prinzipientreue.«
    »Dann hältst du mich also für eine Japanerin?«
    Seine schlechte Laune löste sich in einem Lachen. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
    »Genau das meine ich. Gehen wir ein Stück?«
    »Nicht dass wir auf deinen Wegen herumtrampeln.«
    »Schon gut. Darüber sind wir hinaus.«
    Sie spazierten unter dem grünen Dach der Thunbergs-Kiefer. Ihnen war, als beträten sie eine andere Dimension. Der dämmrige Halbschatten überzog alles mit einem grünlichen Schimmer. Es war ein sanftes und tröstliches, aber auch trauriges Grün, das zwischen Hell und Dunkel flirrte. Lichtflecke bewegten sich wie auf dem Grund eines Aquariums. Naoko schloss die Augen und atmete die feuchten Düfte ein. Sie befand sich nicht mehr in einem Garten, sondern in ihrer Kindheit.
    »Ich wollte mich bei dir entschuldigen«, sagte sie leise.
    »Das sieht dir aber überhaupt nicht ähnlich.«
    »Mein Anwalt hat mich nicht einmal informiert. Er glaubt, wir befinden uns im Krieg.«
    »Aber das alles ist doch nicht auf dem Mist deines Anwalts oder des Psychiaters gewachsen.«
    Naoko schüttelte langsam den Kopf. Sie fühlte sich zu erschöpft, um ihm zu widersprechen.
    »Hör zu, es ist meine Schuld. Ich habe irgendetwas dahergeredet, und mein Anwalt hat es benutzt und dir diesen Psychiater auf den Hals gehetzt.«
    »Wer hat ihm meine Arztrezepte gegeben?«
    »Welche Rezepte?«
    »Die von damals, als ich die Depression hatte.«
    Erst mit Verzögerung wurde Naoko klar, dass Rhim und der Arzt tatsächlich eine volle Breitseite gegen Passan gefahren und in den tiefsten Tiefen seiner Vergangenheit herumgewühlt hatten.
    »Dafür kann ich nichts«, verteidigte sie sich. »Damals waren wir noch nicht einmal zusammen. Vielleicht haben sie die Kliniken angerufen – keine Ahnung. Mein Anwalt glaubt offenbar, er müsse in den Kampf ziehen.«
    »Du nicht?«
    »Nein. Wir sind uns einig, dass wir uns scheiden lassen wollen, aber wir sollten uns wenigstens nicht um die Modalitäten streiten.«
    »Ich war es nicht, der auf zwei Anwälten bestanden hat.«
    »Ich dachte, damit würde alles klarer.«
    »Wie man heute gesehen hat.«
    »Es ist noch nicht zu spät für einen Rückzieher.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wir suchen uns einen neuen gemeinsamen Anwalt und vergessen das Gutachten und all den anderen Mist.«
    »Hätten wir den ersten behalten, hätten wir uns einiges sparen können.«
    »Ich zahle ihn aus meiner Tasche.«
    Schweigend sahen sie sich an. Sie streckte ihm die Hand hin, doch er ließ eine gute Weile verstreichen, ehe er sie ergriff. Während der ganzen Zeit fixierte er einen unsichtbaren Punkt irgendwo am Teich, als könne er durch den Schilfgürtel hindurchsehen.
    »Mal sehen«, murmelte er schließlich und ging weiter.
    Naoko lief hinter ihm her. Die letzten Sonnenstrahlen durchdrangen die Wolken und blitzten durch die Büsche. Mit einem Mal glitzerten tausend kleine Silberkügelchen auf den Moosen. Flechten, die normalerweise ein bläuliches Grün zeigten, wurden plötzlich zartlila. Es war lange her, dass Naoko den Zen-Garten als so schön erlebt hatte. Wirklich nicht übel, dachte sie.
    »Bekommst du jetzt Ärger im Job?«
    »Schlimmer als jetzt kann es kaum noch kommen.«
    Sie hatten den Teich erreicht, dessen dunkelgrüne Oberfläche an die gewaltige Farbtiefe eines Kirchenfensters denken ließ. In einiger Entfernung war leises Vogelzwitschern zu hören.
    »Und der Fall?«
    »Welcher Fall?«
    Passan wirkte verloren. Als hätte er alles verdrängt.
    »Der Affe im Kühlschrank.«
    »Darauf habe ich die Kollegen angesetzt. Keine Sorge.«
    »Und hier im Viertel? Hat jemand etwas gesehen?«
    »Niemand.«
    »Ist gestern Nacht etwas passiert?«
    »Nein.«
    Naoko spürte, wie ihr Zorn zurückkehrte. Passan log. Zumindest sagte er nicht alles.
    »Keine Sorge«, wiederholte er, als wolle er weiteren Fragen vorbeugen. »Ich glaube, der Kerl rührt sich nicht mehr. Aber schnappen

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