Die Wahrheit des Blutes
gespenstisches Grün. Fast wie bei einem Einsatz in Afghanistan. Tatsächlich aber befand sich Passan inmitten einer harmlosen Wohnsiedlung mit kleinen Gärten.
Den Finger am Abzug, verharrte er in schussbereiter Stellung. Auch das gab ihm Sicherheit. Die Waffen stammten aus seinem persönlichen Bestand, denn seine Dienstwaffe hatte man ihm weggenommen. Außer der Glock 17 im Anschlag trug er noch eine Sig SP 2022 am Knöchel und ein Eickhornmesser im Gürtel. Er hatte weder Handy noch Navi oder Ballistikrechner dabei – nichts, was mit moderner Technik auffindbar wäre.
Passan hatte beschlossen, Guillard als Gegner im kriegerischen Sinn zu sehen. Er musste sich also auf einen gut ausgerüsteten, erfahrenen, gefährlichen und überdurchschnittlich intelligenten Feind einstellen.
Es war halb zwölf. Auf der Terrasse herrschte Ruhe, ebenso wie im Innern des Hauses. Guillard hielt sich daheim auf und war noch wach. Als würde er auf etwas lauern. Instinktiv schien er zu wissen, dass sich in dieser Nacht alles entscheiden würde.
Nach dem verstörenden Gespräch mit Naoko hatte Passan sofort das Abendbrot zubereitet, ohne die Klavierstunde auch nur zu erwähnen. Anschließend hatte er die beiden Jungen zu Bett gebracht und sie unter der Obhut von Fifi zurückgelassen, der im Wohnzimmer vor den Monitoren saß. Die Kameras liefen, die Mikrofone waren eingeschaltet. Draußen vor dem Haus patrouillierten Polizisten.
Die Villa war zur uneinnehmbaren Festung geworden. Zumindest hoffte Passan das.
Gegen halb zehn hatte er seine Vorbereitungen beendet. Fifi verzog das Gesicht, als er die Sporttasche und die Pistolenschutzhülle entdeckte.
»Wo willst du eigentlich hin?«
»Zerbrich dir mal nicht den Kopf.«
»Den zerbreche ich mir aber, sobald du aus meinem Blickfeld verschwindest.«
»Pass auf die Kinder auf. Mehr brauchst du nicht zu tun.«
Um zehn war er in Neuilly-sur-Seine angekommen. Es war dunkel und still. Auf einem Parkplatz am Square de Chezy hatte er sich umgezogen und anschließend seine erste Runde gedreht.
Guillards Stadtpalais befand sich am Ende einer mit Villen und eleganten Wohnhäusern gesäumten Sackgasse. Mit seinem Generalschlüssel hatte Passan das erste Gitter geöffnet und war in der Deckung der geparkten Autos vorwärtsgeschlichen. Die beiden Wachposten der Polizei standen im Licht einer Straßenlaterne, rauchten und schienen sich entsetzlich zu langweilen. Ganz gleich, was geschehen würde: Passan hatte beschlossen, ohne sie auszukommen. Inzwischen wusste er, mit welchem Trick Guillard seine Beschatter an der Nase herumführte. Eigentlich war es erstaunlich einfach: Er benutzte einen anderen Ausgang. In Aubervilliers war der Autohändler über den Parkplatz hinter dem Gebäude entwischt. Sein Haus musste über einen ähnlichen Hinterausgang verfügen.
Auf der Suche nach einem guten Ausblick war Passan um die Villa herumgegangen und hatte sich in Gärten, Höfe und auf Terrassen vorgewagt. Schließlich fand er einen Maronenbaum, der die Begrenzungsmauer überragte. Von den belaubten Ästen aus hatte er eine perfekte Sicht auf Guillards Haus.
Das Gebäude war zweigeschossig. Als Passan es vor einigen Wochen durchsuchte, hatte ihm die Ausstattung gut gefallen. Weiße Wände. Große Fenster ohne Balustrade oder Balkon. Karge, mit wenigen Designermöbeln ausgestattete Räume. Auf der Teakholz-Terrasse standen Gartenmöbel und ein großer weißer Sonnenschirm. Alles sah aus wie in einem Hochglanzmagazin. Passan ahnte, dass Guillard die Innenausstattung einem Profi überlassen hatte, weil er sich mit Dekoration kaum auskannte. Ihm waren andere Dinge wichtig. Er lebte in einer Welt aus Angst und Finsternis, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Ebenso gut hätte er in der Bude eines Schrotthändlers oder in einer Gefängniszelle wohnen können.
Ein weiterer Blick durch den Feldstecher. Immer noch nichts. Im Schlafzimmer, dessen Fenster sich rechts befand, brannte nach wie vor Licht. Allerdings waren die hellen Stoffvorhänge zugezogen. Ob der Wettlauf am Mittag das Tier in Guillard besänftigt hatte? Wohl eher nicht. Der Hass auf Passan und die Gier nach Rache – möglicherweise aber auch die Lust am Morden – würden ihn früher oder später hinaustreiben. Wie einen Vampir, den es nach Blut dürstete. Oder ein Raubtier auf der Suche nach frischem Fleisch.
Fast Mitternacht. Allmählich begannen Passans Knochen zu schmerzen. Wieder einmal stellte er sich die brennende Frage:
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