Die Wahrheit des Blutes
Würde er Guillard in dieser Nacht exekutieren? Ohne Beweise? Ohne Prozess? Und was käme danach? Würde er sich je wieder im Spiegel anschauen können? Was würde Naoko denken, die ihn ohnehin schon für einen tollwütigen Hund hielt?
Naoko.
Das Gespräch im Garten hatte ihn tief erschüttert. Noch nie hatte er die japanische Atmosphäre seines Gartens so stark empfunden. Als hätte seine Frau ihm endlich den Schlüssel überlassen, der die Tore des Zen-Gartens öffnete. Inmitten goldener Moose und duftender Kiefern hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, wieder in Japan zu sein. Fand sich zurückkatapultiert in die Zeit, als sie einander auf der Terrasse des Tempels Kiyomizu-dera oberhalb von Kyoto fotografiert hatten.
Naoko war gekommen, um sich zu entschuldigen. Aber wie üblich hatte sie nicht einmal einen kleinen Teil dessen ausgesprochen, was sie wirklich dachte. Er war ihr deswegen nicht böse. Auf dem Grund ihres Schweigens fand sich immer noch ein anderes Schweigen. Eine dunkle Tiefe, die sich nie enthüllte. Dieses Geheimnis hatte sie auch am heutigen Abend begleitet, als sie gemeinsam durch den Garten wanderten.
Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Passan im Scherz zu ihr gesagt: »Am meisten an Ihnen liebe ich Ihren Esprit.« Das war natürlich eine Lüge gewesen. Angesichts einer so augenfälligen Schönheit denkt kein Mann an geistvolle Gespräche.
Sie jedoch hatte ihm geantwortet: »Das ist nicht gut. Mein Geist ist finster.« Erst viel später hatte sie ihm gestanden, dass sie sich mit dieser Antwort interessant machen wollte.
Und doch hatten beide, ohne es zu ahnen, die Wahrheit gesagt. Naokos Geist war wirklich dunkel. Manchmal schien er jegliches Licht zu absorbieren wie ein schwarzes Loch. Und genau diese Finsternis hatte Passan leidenschaftlich an ihr geliebt. Ebenso wie er es liebte, sich in ihren Haaren von der Farbe seidigen Todes zu verlieren.
Plötzlich zuckte er zusammen. Eine Gestalt war über die Terrasse gehuscht – so verstohlen, dass er es beinahe für eine Sinnestäuschung gehalten hätte. Im Haus hatte sich nichts bewegt. Die Fenster im Obergeschoss waren immer noch erleuchtet, und Passan hatte weder ein Fenster noch eine Tür klappern hören.
Er zückte den Feldstecher und beobachtete den Garten. Tatsächlich! Ein Schatten verschwand zwischen den Bäumen und kletterte eine Begrenzungsmauer hinauf. Als er ganz oben war, huschte ein Mondstrahl über seinen Rücken. Es war wirklich Guillard. Ganz in Schwarz. Wie ein Soldat im Einsatz. Wie Passan selbst.
Guillard rollte sich über die Mauer und verschwand auf der anderen Seite. Zwanzig Meter weiter tauchte er im begrünten Hof eines Wohnhauses wieder auf. Passan erkannte seine hüpfende Gangart. Der Geburtshelfer auf dem Weg ins Reich der Nacht.
Der Polizist nahm ihn ins Visier, doch sein Finger berührte den Abzug nicht.
Nein – dazu war er nicht hier. Er war gekommen, um sein Wild zu verfolgen und zu erfahren, was es vorhatte.
Er richtete sich auf und steckte die Waffe ein. Mit ausgestrecktem Bein tastete er nach der Mauerzinne. Wie ein Mondsüchtiger lief er rasch und leise über die Mauer. Als er wieder aufblickte, war Guillard verschwunden. Rasch ließ Passan sich hinabgleiten und rannte los.
54
Seit fast einer halben Stunde schon verfolgte er Guillard. Sie befanden sich auf der A 86. Sorgfältig achtete Passan darauf, dass sich immer einige Autos zwischen ihnen befanden. Scheinwerfer, Straßenlampen und Hinweisschilder zerfetzten die Nacht. Doch die über ihnen lastende Dunkelheit erwies sich als stärker. Passan hatte den Eindruck, in schwarzes kompaktes Magma einzudringen.
Guillard manövrierte seinen Wagen über die verwirrende Vielfalt der Fahrstreifen. Am Boulevard d’Inkermann verließ er schließlich die Autobahn und fuhr auf einen Parkplatz. Mit einer Fernbedienung erweckte er einen dunkel glänzenden Mercedes der S-Klasse zum Leben. Das Auto sah aus wie ein Leichenwagen.
Passan, der so etwas geahnt hatte, parkte seinen Subaru in der Nähe. Er hatte gerade noch Zeit, seine Ausrüstung im Kofferraum zu verstauen, als es auch schon weiterging. Guillard fuhr gemächlich und beachtete die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Sogar auf diese Entfernung konnte Passan die Ruhe und Kaltblütigkeit seines Gegners spüren. Wenn es dieses Mal zur Konfrontation kam, würde der Autohändler nicht panisch reagieren. Da war sich Passan sicher.
Nanterre. Gennevilliers. Der Geburtshelfer fuhr in seine Jagdgründe – ins
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