Die Wahrheit eines Augenblicks
Ihren Anruf.«
»Nun. Ich wollte Bescheid sagen, dass wir das Video von Detective Bellach erhalten und es uns angesehen haben.« Kriminalkommissarin Strout war offenbar jünger, als sie zunächst geklungen hatte. Sie war äußerst bemüht, mit professioneller Stimme zu sprechen. »Mrs. Crowley, ich verstehe, dass Sie möglicherweise sehr hohe Erwartungen hatten oder dachten, das Video könnte einen Durchbruch bringen. Von daher tut es mir sehr leid, Sie enttäuschen zu müssen. Doch ich muss Ihnen sagen, dass wir Connor Whitby zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht noch einmal befragen werden. Wir sind nicht der Auffassung, dass das Video eine neuerliche Befragung rechtfertigen würde.«
»Aber es zeigt sein Motiv«, beharrte Rachel verzweifelt. Sie schaute durch die Windschutzscheibe auf einen herrlichen Baum mit goldenen Blättern, der hoch in den Himmel ragte. »Können Sie das nicht erkennen?« Ein einzelnes Blatt löste sich, begann sanft zu fallen und wirbelte kreisend durch die Luft.
»Tut mir leid, Mrs. Crowley. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts weiter tun.« In ihrer Stimme schwang Mitgefühl mit, das ja, doch Rachel hörte auch einen gewissen herablassenden Ton heraus, den diese junge, professionelle Kommissarin ihr gegenüber anschlug. Laiin, die sie war. Die Mutter des Opfers. Viel zu emotional, um objektiv zu sein. Hatte keine Ahnung vom kriminalpolizeilichen Prozedere. Teil des Jobs, beruhigende Worte für sie zu finden .
Rachels Augen standen voll Tränen. Das goldene Blatt war aus ihrem Blickfeld verschwunden.
»Wenn Sie wollen, komme ich nach den Ostertagen gern einmal bei Ihnen vorbei«, sagte Kommissarin Strout. »Wann immer es Ihnen passt.«
»Das ist nicht nötig«, erklärte Rachel in eisigem Ton. »Danke für den Anruf.« Sie warf das Handy aus der Hand, sodass es auf dem Beifahrersitz landete. »Zwecklos. Und wie herablassend diese elende kleine …« Es schnürte ihr die Kehle zu. Sie drehte den Zündschlüssel.
»Sieh mal den Drachen von dem Mann dort!«, rief Isabel.
Cecilia blickte nach oben und sah auf der Kuppe eines Hügels einen Mann, der einen mächtigen Drachen in Form eines Fisches trug, der wie ein Luftballon hinter ihm hertanzte.
»Es sieht aus, als führte er den Fisch spazieren«, sagte John-Paul keuchend. Er beugte sich auf seinem Rad nach vorn, krümmte sich fast und schob Polly auf ihrem Fahrrad neben sich her, die jammerte, dass ihre Beine sich wie Wackelpudding anfühlten. Polly saß kerzengerade auf ihrem Rad, auf dem Kopf ihr rosa Glitzerhelm und auf der Nase die Plastiksonnenbrille mit den sternförmigen Gläsern. Cecilia griff über den Lenker in ihren weißen Fahrradkorb, nahm die lila Trinkflasche heraus und trank einen Schluck Wasser mit Sirup.
»Fische können nicht laufen«, sagte Esther, die neben ihnen herlief, ohne von ihrem Buch aufzublicken. Sie hatte die bemerkenswerte Gabe, gleichzeitig joggen und lesen zu können.
»Du könntest wenigstens ein bisschen in die Pedale treten, Prinzessin Polly«, sagte Cecilia.
»Meine Beine fühlen sich aber immer noch wie Wackelpudding an«, quengelte Polly.
John-Paul warf Cecilia einen schmunzelnden Blick zu. »Ist schon in Ordnung. Gutes sportliches Training für mich.«
Cecilia atmete tief durch. Der Anblick des fischförmigen Drachens vor ihnen, der munter hinter dem Mann her durch die Luft »schwamm«, hatte etwas Skurriles und Wunderbares. Die Luft roch süß. Die Sonne schien warm in Cecilias Nacken. Isabel, die sich ebenfalls dafür entschieden hatte zu laufen, statt Rad zu fahren, pflückte winzige Blüten aus den Hecken und steckte sie Esther in den geflochtenen Zopf. Cecilia fühlte sich an irgendetwas erinnert. War es ein Buch oder ein Film aus ihrer Kindheit? Es hatte etwas mit einem kleinen Mädchen zu tun, das in den Bergen lebte und Blumen in den Zöpfen hatte – Heidi?
»Ein wunderschöner Tag!«, rief ihnen ein Mann zu, der auf der Veranda vor seinem Haus bei einer Tasse Tee saß. Cecilia kannte ihn flüchtig aus der Kirche.
»Großartig!«, rief sie freundlich zurück.
Der Mann mit dem Drachen vor ihnen hielt an. Er zog ein Handy aus seiner Jackentasche und hielt es sich ans Ohr.
»Das ist nicht irgendein Mann.« Polly reckte den Kopf. »Das ist Mr. Whitby!«
Rachel fuhr wie ferngesteuert nach Hause. Sie versuchte, all ihre Gedanken auszuschalten. Um diese Zeit vor achtundzwanzig Jahren war Janie in der Schule gewesen und Rachel wahrscheinlich gerade dabei, ihr Kleid zu bügeln
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