Die Wahrheit eines Augenblicks
für den Termin bei Toby Murphy. Das verfluchte Kleid, das Marla ihr aufgeschwatzt hatte, weil es ihre Beine zur Geltung brachte.
Nur sieben Minuten zu spät. Es hatte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht. Aber sie würde es nie mit Sicherheit wissen.
»Wir können nichts weiter tun.« Die steife, affektierte Stimme von Kriminalkommissarin Strout hallte noch immer in ihrem Kopf nach. Und ständig sah sie Connor Whitbys eiskaltes Gesicht am Ende der Videoaufnahme vor sich. In seinen Augen stand unverkennbar Schuld.
Er ist es gewesen. Er hat es getan .
Sie schrie. Es war ein hässliches, schauriges Schreien, das das ganze Auto erzittern ließ. Sie hieb mit den Fäusten fest auf das Lenkrad, was sie beängstigte und zugleich beschämte.
Die Ampel wurde grün. Sie drückte den Fuß aufs Gas. War heute der schlimmste Todestag, oder war es immer schon so schlimm wie heute gewesen? Wahrscheinlich war es Jahr für Jahr so fürchterlich gewesen. Es war so leicht zu vergessen, wie schlimm die Dinge waren. Winter. Grippe. Entbindung.
Rachel spürte die Sonne auf ihrem Gesicht. Es war ein schöner Tag, wie der Tag, an dem Janie gestorben war. Die Straßen waren menschenleer. Niemand schien unterwegs zu sein. Was machten die Leute denn alle am Karfreitag?
Rachels Mutter ging immer den Kreuzweg. Ob Janie katholisch geblieben wäre? Wahrscheinlich nicht.
Denke nicht über die Frau nach, die Janie heute vielleicht wäre !
Denke nichts! Denke nichts! Denke nichts!
Wenn Jacob in New York ist, würde nichts mehr da sein. Es wird sein wie ein Tod. Jeder Tag würde sich so schlimm anfühlen wie der heutige. Denk auch nicht an Jacob !
Ihre Augen folgten einem Haufen flatternder, roter Blätter, die in einer Böe tanzten wie winzige, aufgescheuchte Vögel.
Marla hatte einmal gesagt, sie müsse immer an Janie denken, wenn sie einen Regenbogen sah. »Warum?«, hatte Rachel sie gefragt.
Die leere Straße breitete sich vor ihr aus, und die Sonne schien heller. Sie kniff die Augen zusammen und klappte die Sonnenblende herunter. Sie vergaß ständig, ihre Sonnenbrille mitzunehmen.
Da war ja doch jemand unterwegs.
Ein Mann. Er stand auf dem Gehweg, in der Hand einen leuchtend bunten Luftballon. Er sah aus wie ein Fisch. Wie der Fisch in Findet Nemo . Jacob hätte seine helle Freude daran.
Der Mann telefonierte gerade mit dem Handy und schaute hinauf zu seinem Luftballon.
Nein, es war gar kein Luftballon. Es war ein Drachen.
»Tut mir leid. Es klappt heute nicht mehr«, sagte Tess.
»Schon gut«, meinte Connor. »Dann ein andermal.« Der Empfang war glasklar. Sie konnte jede Schwingung, jede Farbe in seiner Stimme hören, die tiefer klang als sonst, ein bisschen rauer. Tess drückte den Hörer an ihr Ohr, als könnte sie sich in seine Stimme einwickeln.
»Wo bist du?«
»Stehe auf einem Gehweg mit einem Fischdrachen in der Hand.«
Sie fühlte eine Welle des Bedauerns, aber auch einfach nur Enttäuschung, die etwas Kindliches hatte, so, als verpasste man einen Kindergeburtstag, weil man Klavierstunde hatte. Nur noch einmal wollte sie mit ihm schlafen. Sie wollte nicht im kalten Haus ihrer Mutter sitzen und ein kompliziertes, schmerzhaftes Gespräch mit ihrem Ehemann führen. Sie wollte im Sonnenschein mit einem Fischdrachen um ihren alten Schulsportplatz laufen. Sie wollte sich verlieben, wollte nicht versuchen, eine kaputte Beziehung zu flicken. Sie wollte für jemanden die Nummer eins sein, nicht die Nummer zwei.
»Es tut mir so leid«, sagte sie.
»Es muss dir nicht leidtun.«
Stille.
»Was ist?«, fragte er.
»Mein Mann ist auf dem Weg hierher.«
» Ah .«
»Anscheinend ist mit ihm und Felicity Schluss, bevor es überhaupt angefangen hat.«
»Dann sind wir ja schon zwei.« Und das klang nicht wie eine Frage.
Sie beobachtete Liam, der im Vorgarten spielte. Sie hatte ihm gesagt, dass sein Vater auf dem Weg war. Er fegte wie wild durch den Garten, fiel zuerst in die Hecke, dann in den Zaun, als trainierte er für ein sportliches Ereignis, bei dem es um Leben und Tod ging.
»Ich weiß nicht, was passieren wird. Es ist nur so, weißt du, mit Liam … Ich muss es wenigstens versuchen. Dem Ganzen wenigstens eine Chance geben.« Sie dachte daran, wie Will und Felicity zusammen im Flieger gesessen hatten, Hand in Hand, mit stoischen Gesichtern. Zum Teufel noch mal!
»Klar, natürlich.« Er klang warm und herzlich. »Du musst nichts erklären.«
»Ich hätte nie …«
»Bitte, bereue es nicht!«
»Gut.«
»Sag
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