Die Wahrheit eines Augenblicks
umhüllt von einer eigenen schützenden, kleinen Blase.
»Sonst hatten wir Karfreitagsbrötchen immer mit ganz viel Butter«, maulte Polly, die in ihrem rosa Flanellschlafanzug am Küchentisch saß, mit verwuschelten Haaren, die Wangen noch rot vom Schlaf. »Das ist Tradition. Los, Mum, geh und kauf Butter!«
»Sprich nicht so mit deiner Mutter! Sie ist nicht dein Dienstmädchen«, sagte John-Paul in dem Moment, da Esther die Nase aus ihrem Buch nahm, das sie aus der Bücherei geliehen hatte, und erklärte:
»Die Läden haben heute zu, du Dummerchen.«
»Egal«, seufzte Isabel. »Ich geh mal skypen mit …«
»Nein, gehst du nicht«, entgegnete Cecilia. »Wir frühstücken jetzt, und dann laufen wir zusammen zum Sportplatz an der Schule.«
»Laufen?«, fragte Polly verächtlich.
»Jawohl. Laufen. Es wird heute wunderschön draußen. Oder wir radeln. Wir nehmen den Fußball mit.«
»Ich bin in Daddys Mannschaft«, rief Isabel.
»Und auf dem Rückweg halten wir an der Tankstelle und kaufen Butter. Dann essen wir die Karfreitagsbrötchen später, wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Perfekt«, meinte John-Paul. »Das klingt perfekt.«
»Wusstet ihr, dass manche Leute gar nicht wollten, dass die Berliner Mauer fällt?«, fragte Esther. »Ist doch komisch, oder? Wieso sollte man hinter einer Mauer leben wollen?«
»Nun, das war lecker, doch ich denke, ich gehe jetzt«, sagte Rachel. Sie stellte den Kaffeebecher auf das Tischchen. Ihre Pflicht war erfüllt. Sie beugte sich vor und holte tief Luft, um sich aus dem Sofa zu hieven. Es war bequem, aber viel zu niedrig. Ob sie allein hochkam? Lauren würde ihr sogleich zu Hilfe eilen, sobald sie bemerkte, dass ihr das Aufstehen Probleme bereitete. Rob war immer einen Moment zu spät.
»Was machst du denn heute noch?«, fragte Lauren.
»Ich werkle ein wenig herum«, sagte Rachel. Ich zähle die Minuten . Sie streckte Rob eine Hand entgegen. »Hilfst du mir auf, Liebling?«
Da kam Jacob mit einem gerahmten Foto angelaufen, das er aus dem Regal genommen hatte, und brachte es Rachel. »Daddy«, sagte er überzeugt.
»Das ist richtig«, stimmte Rachel ihm zu. Es war ein Foto von Rob und Janie in den Campingferien an der Südküste in dem Jahr, bevor Janie starb. Die beiden standen vor einem Zelt, und Rob machte mit seinen Fingern hinter Janies Kopf zwei Hasenohren. Warum eigentlich fanden Kinder das so lustig?
Rob stellte sich neben Jacob und zeigte auf seine Schwester. »Und wer ist das?«
»Tante Janie«, antwortete Jacob klar und deutlich.
Rachel verschlug es die Sprache. Sie hatte ihn noch nie »Tante Janie« sagen hören, obwohl sie und Rob ihm seine Tante auf Fotos immer gezeigt hatten, seit er ein kleines Baby war.
»Schlauer Junge.« Sie wuschelte ihm durch die Haare. »Deine Tante Janie hätte dich geliebt.«
In Wahrheit aber hatte sich Janie nie sonderlich viel aus Kindern gemacht. Sie hatte schon als kleines Mädchen lieber mit Robs Legosteinen gespielt als mit Puppen.
Jacob sah sie skeptisch an, als wüsste er das, und trollte sich mit dem Foto wieder, das er gefährlich locker in der Hand schwenkte. Rachel ergriff Robs Hand, und er half ihr auf.
»Danke vielmals, Lauren …«, sagte Rachel und sah verwundert, wie ihre Schwiegertochter auf den Boden stierte, als wäre Rachel gar nicht da.
»Entschuldige«, bat Lauren mit einem weinerlichen Lächeln. »Es nimmt mich nur etwas mit, dass ich Jacob eben zum ersten Mal ›Tante Janie‹ sagen hörte. Ich weiß nicht, wie du diesen Tag jedes Jahr überstehst, Rachel. Ich weiß es wirklich nicht. Ich wünschte nur, ich könnte irgendetwas tun.«
Du könntest mir meinen Enkel lassen, ihn nicht mit nach New York nehmen , dachte Rachel. Du könntest hierbleiben und noch ein Kind bekommen . Aber sie lächelte nur höflich und erwiderte: »Danke, meine Liebe. Mir geht es gut.«
Lauren stand auf. »Ich wünschte, ich hätte sie gekannt. Meine Schwägerin. Ich hätte immer gern eine Schwester gehabt.« Ihr Gesicht war rosa und weich. Rachel wandte ihren Blick ab. Sie konnte es nicht ertragen. Sie wollte Laurens Verwundbarkeit nicht sehen.
»Ich bin sicher, sie hätte dich geliebt.« Das klang in ihren eigenen Ohren derart oberflächlich, dass sie vor lauter Scham husten musste. »Nun. Ich geh dann mal. Danke, dass ihr heute mit mir in den Park gekommen seid! Es hat mir viel bedeutet. Ich freue mich, euch am Ostersonntag wiederzusehen. Bei deinen Eltern, Lauren.«
Sie mühte sich redlich, ein wenig
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