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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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kam sie gut zurecht. Ein erstes Date mit einem neuen Mann war nie ein Problem für sie gewesen. (Solange er sie um eine Verabredung bat, versteht sich. Sie hätte nie den ersten Schritt getan.) Erst wenn der Mann sie in seinen Familien- und Freundeskreis hatte einführen wollen, hatte die panische Angst ihren gruseligen, kleinen Kopf wie ein Schreckgespenst emporgereckt.
    »Und überhaupt, wenn du wirklich unter einer ›Sozialphobie‹ leidest, wie du sagst, warum hast du mir nie davon erzählt?«, fragte Felicity in der festen Überzeugung, dass sie alles über Tess wusste, was es über sie zu wissen gab.
    »Weil ich keinen Namen dafür hatte. Bis vor wenigen Monaten hatte ich nie die Worte, um dieses Gefühl zu beschreiben.« Und weil du ein Teil meiner Identität warst , dachte sie. Weil wir, du und ich, immer so getan haben, als wäre es uns piepegal, was andere Leute von uns denken, und wir uns der ganzen Welt überlegen fühlten. Und hätte ich vor dir zugegeben, wie es tatsächlich in mir aussah, dann hätte ich auch eingestehen müssen, dass es mir durchaus wichtig war, was andere Leute denken, viel zu wichtig sogar.
    »Weißt du, was? Ich bin einmal zum Aerobic gegangen, in einem Shirt in Größe 46.« Felicity neigte sich vor und sah sie mit stechendem Blick an. »Die Leute guckten mich nicht einmal an. Ich bemerkte ein Mädchen, das seine Freundin anstupste, damit sie mich musterte, und dann brachen beide in schallendes Gelächter aus. ›Achtung, das fette Kalb kommt!‹, hörte ich einen Kerl sagen. Erzähl du mir also nichts von Sozialphobie, Tess Curtis!«
    Es klopfte an der Tür.
    »Mum! Felicity! Warum habt ihr abgeschlossen?«, rief Liam. »Lasst mich rein!«
    »Liam, geh!«, fuhr Tess ihn an.
    »Nein! Seid ihr noch nicht fertig?«
    Tess und Felicity sahen einander an. Felicity lächelte sacht, und Tess schaute weg.
    Vom anderen Ende des Hauses schallte Lucys Stimme herauf. »Liam, komm wieder her! Ich habe dir gesagt, lass deine Mutter in Ruhe!« Mit ihren Krücken war sie ihm nicht so schnell nachgekommen.
    Felicity stand auf. »Ich muss los. Mein Flug geht um zwei. Mum und Daddy fahren mich zum Flughafen. Mum ist ziemlich mitgenommen. Und Daddy spricht anscheinend nicht mehr mit mir.«
    »Dann reist du wirklich heute noch ab?« Tess sah auf.
    Ganz kurz dachte sie an die Firma: an die Kunden, die sie durch hartes Engagement gewonnen hatte, an den Kapitalfluss, den sie unter größten Mühen gesund hielten, den sie hegten und pflegten wie ein zartes Pflänzchen, an die Excel-Tabellen der »laufenden Arbeiten«, die sie jeden Morgen zusammen durchgingen. War dies das Ende der TWF -Werbeagentur? Das Ende all ihrer Träume? Das Ende von allem?
    »Ja«, antwortete Felicity. »Das hätte ich schon vor Jahren machen sollen.«
    Tess stand ebenfalls auf. »Ich verzeihe dir nicht.«
    »Ich weiß«, sagte Felicity. »Ich mir auch nicht.«
    »Mum!«, schrie Liam.
    »Immer mit der Ruhe!«, rief Felicity. Sie nahm Tess am Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Erzähl Will nichts von Connor!«
    Einen flüchtigen, befremdlichen Augenblick lang umarmten sie sich. Dann drehte Felicity sich um und öffnete die Tür.

50
    »Es gibt keine Butter«, verkündete Isabel. »Und auch keine Margarine!«
    Sie stand vor dem Kühlschrank und sah ihre Mutter fragend an.
    »Bist du sicher?«, fragte Cecilia. Wie konnte das passieren? Grundnahrungsmittel vergaß sie nie einzukaufen. Ihr Kühlschrank und ihre Vorratskammer waren immer perfekt bestückt. Manchmal rief John-Paul an, wenn er auf dem Nachhauseweg war, und fragte, ob er noch etwas besorgen solle, Milch oder sonst etwas. Und Cecilia antwortete dann immer: »Hm. Nein.«
    »Gibt es denn heute keine Karfreitagsbrötchen?«, wunderte sich Esther. »Die gibt es am Karfreitag doch immer zum Frühstück.«
    »Wir können ja noch welche machen«, sagte John-Paul. Er ging an Cecilia vorbei zum Küchentisch und strich ihr dabei automatisch mit den Fingern über den unteren Rücken. »Die Karfreitagsbrötchen deiner Mutter schmecken auch ohne Butter gut.«
    Cecilia betrachtete ihn. Er war blass, ein wenig zittrig, als würde er gerade von einer Grippe genesen, und er wirkte ängstlich und empfindsam.
    Sie selbst fühlte sich, als wartete sie darauf, dass irgendetwas passierte: dass das Telefon bimmelte, dass jemand an der Tür schellte. Aber der Tag ging dahin, eingehüllt in ein angenehmes, gefahrloses Schweigen. Nichts würde an einem Karfreitag passieren. Der Karfreitag war

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