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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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können.
    Cecilia legte ihr Gesangbuch aus der Hand. Herrschaft noch mal! Ihr Mann war doch nicht schwul. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Bild von John-Paul, wie er vergangene Woche beim Fußballspiel von Isabel an der Seitenlinie auf und ab marschiert war und sie lautstark angefeuert hatte. Zwischen ein paar silbrig grauen Bartstoppeln hatte auf jeder Wange ein Ballerina-Sticker geklebt. Polly hatte herumgealbert und sie ihm aufgeklebt. Ein Gefühl der Liebe brandete in Cecilia auf, als sie daran dachte. Nein, an John-Paul gab es nichts, was unmännlich wäre. Er fühlte sich einfach nur wohl in seiner Haut. Er musste sich nicht beweisen.
    Der Brief hatte nichts zu tun mit der Sexflaute. Er hatte nichts zu tun mit sonst irgendetwas. Er lag gut aufbewahrt unter Verschluss im Ablageschrank in der roten Aktenmappe zusammen mit den Abschriften ihrer Testamente.
    Sie hatte versprochen, ihn nicht zu öffnen. Also konnte und würde sie es auch nicht tun.

8
    »Weißt du, wer gestorben ist?«, fragte Tess.
    »Was sagst du?« Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Sonne zugewandt.
    Sie waren auf dem Schulhof der St.-Angela-Schule. Tess’ Mutter saß im Rollstuhl, den sie vom örtlichen Apotheker gemietet hatten, und ihr Knöchel war auf die Fußstütze gelagert. Tess hatte gedacht, dass Lucy es hassen würde, im Rollstuhl zu sitzen, aber es schien ihr ganz gut zu gefallen, wie sie so kerzengerade dasaß, als wäre sie auf einer Dinner-Party.
    Sie hielten kurz an und genossen die morgendliche Sonne, während Liam den Schulhof erkundete. Es dauerte noch ein paar Minuten bis zum Termin mit der Schulsekretärin, um Liam anzumelden.
    Tess’ Mutter hatte am Morgen alles organisiert. Liams Aufnahme in die St.-Angela-Schule sei gar kein Problem, hatte Lucy ihrer Tochter stolz verkündet. Sie könnten es prompt am selben Tag noch erledigen, wenn sie wollten!
    »Es hat keine Eile«, sagte Tess. »Das können wir auch noch nach Ostern erledigen.« Sie hatte ihre Mutter nicht gebeten, in der Schule anzurufen. Hatte sie nicht das Recht, von der Rolle zu sein und mindestens vierundzwanzig Stunden lang nichts zu tun? Ihre Mutter schien gleich Nägel mit Köpfen machen zu wollen, was sich anfühlte, als wäre dieser albtraumhafte Scherz tatsächlich real.
    »Ich kann den Termin auch wieder absagen, wenn du willst«, erwiderte Lucy und machte dabei eine leidvolle Miene.
    »Du hast einen Termin vereinbart?«, sagte Tess. »Ohne mich zu fragen?«
    »Nun, ich dachte, was du heute kannst besorgen …«
    »Gut«, seufzte Tess. »Dann lass uns aufbrechen!«
    Natürlich hatte Lucy auf einem Termin noch am selben Tag bestanden. Und sie würde sämtliche Fragen für ihre Tochter beantworten, wie sie es gemacht hatte, als Tess klein gewesen war. Das Mädchen hatte sich in sein Schneckenhaus verkrochen, sobald sich eine fremde Person näherte. Und Lucy hatte sich nie ganz abgewöhnt, das Sprachrohr für ihre Tochter zu spielen, was mitunter etwas peinlich war, aber auch nett und entspannend wie der Service in einem Fünf-Sterne-Hotel. Einfach zurücklehnen und andere für sich arbeiten lassen.
    »Weißt du, wer gestorben ist?«, fragte Tess noch einmal.
    »Gestorben?«
    »Na, die Beerdigung ?«, schob Tess nach.
    Der Schulhof grenzte an das Grundstück der St.-Angela-Kirche, sodass Tess sehen konnte, wie gerade ein Sarg zu einem Leichenwagen getragen wurde.
    Das Leben irgendeines Menschen war vorbei. Irgendwer würde niemals mehr die warme Sonne in seinem Gesicht spüren. Tess versuchte, durch diesen Gedanken ihren eigenen Schmerz in die richtige Perspektive zu rücken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie fragte sich, ob Will und Felicity vielleicht jetzt gerade, in dieser Minute, in ihrem Bett Sex hatten. Es war Vormittag. Die beiden hatten für heute keine Termine außer Haus. Tess fand diesen Gedanken geradezu inzestuös. Schmutzig und falsch. Sie schauderte. Tief hinten in ihrer Kehle spürte sie einen bitteren Geschmack, als hätte sie am Abend zuvor irgendeinen billigen Fusel gekippt. Ihre Augen fühlten sich heiß und sandig an.
    Da half auch das Wetter nichts. Es war viel zu schön, spottete ihrem Schmerz. Sydney war überzogen von einem feinen Schleier aus Gold. Der Fächerahorn vor der Schule leuchtete flammend rot. Vor den Klassenzimmern standen Blumenkübel mit strahlend gelben, roten, aprikosenfarbenen und cremeweißen Begonien. Die hochragende Sandsteinsilhouette der St.-Angela-Kirche hob sich scharf gegen

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