Die Wahrheit eines Augenblicks
den kobaltblauen Himmel ab. Die Welt ist wunderschön – so grüßte Sydney Tess. Und du hast ein Problem ?
Sie versuchte, das brüchige Flattern in ihrer Stimme zu glätten. »Du weißt nicht, wer da beerdigt wird?«
Dabei interessierte sie das doch gar nicht wirklich. Sie redete nur, damit sie Worte hörte – irgendwelche Worte, einfach nur, damit diese Bilder von Wills Händen auf Felicitys neu erschlanktem, weißem Körper verschwanden. Auf ihrer Porzellanhaut. Tess’ Haut war dunkler, ein Erbe ihrer väterlichen Linie, in der es eine libanesische Urgroßmutter gab, die lange vor Tess’ Geburt gestorben war.
Will hatte sie am Morgen auf dem Handy angerufen. Sie hätte seinen Anruf ignorieren sollen, aber als sie seinen Namen auf der Anzeige gesehen hatte, hatte sie unwillkürlich einen Funken Hoffnung verspürt und abgenommen. Er rief an, um ihr zu sagen, dass das alles ein schrecklicher Fehler sei. Natürlich war es das.
Doch kaum hatte er angefangen mit dieser grauenvoll neuen, schweren und ernsten Stimme zu sprechen, ohne den Hauch eines Lächelns darin, war alle Hoffnung dahin. »Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er. »Geht es Liam gut?« Er redete, als hätte sich in ihrem Leben gerade eine Tragödie ereignet, die gar nichts mit ihm zu tun hatte.
Sie versuchte verzweifelt, dem echten Will zu erklären, was dieser neue Will, dieser humorlose Störenfried, ihr angetan hatte, wie sehr er ihr das Herz gebrochen hatte. Der echte Will würde alles wieder heil machen wollen. Der echte Will würde Klartext reden, würde sich darüber beschweren, wie man seine Frau behandelt hatte, und Wiedergutmachung fordern. Der echte Will würde ihr eine Tasse Tee aufgießen, ihr ein Bad einlassen und ihr die lustige Seite all dessen aufzeigen, was ihr da gerade passiert war.
Nur dass es diesmal keine lustige Seite gab.
Tess’ Mutter drehte sich zu ihr um und blinzelte in ihre Richtung. »Ich glaube, es ist diese schreckliche, kleine Nonne.«
Tess hob die Brauen, um betroffen zu wirken, und ihre Mutter schmunzelte selbstzufrieden. Sie war so fest entschlossen, Tess froh zu stimmen, dass sie sich wie eine Animateurin benahm, die sich wie wild mühte, die Menge immer wieder aufs Neue zu begeistern. Am Morgen, als sie mit dem Deckel auf dem Marmeladenglas gekämpft hatte, hatte sie tatsächlich das Wort »Hurensohn« benutzt und jede einzelne Silbe dabei so klangvoll gedehnt, dass es sich am Ende genauso harmlos angehört hatte wie »Heinzelmännchen«.
Lucy hatte das schlimmste Schimpfwort aus ihrem Repertoire benutzt, da sie eine Stinkwut auf sich selbst hatte. Wenn Lucy »Hurensohn« sagte, dann war das, als würde ein stets braver und gesetzestreuer Bürger urplötzlich die Waffen schwingen. Und darum war sie auch so rasch dabei gewesen, die Schule anzurufen und einen Termin zu vereinbaren. Sie wollte für Tess aktiv werden, etwas tun, irgendetwas.
»Welche schreckliche, kleine Nonne?«
»Wo ist Liam?« Ihre Mutter drehte sich unbeholfen in ihrem Rollstuhl um.
»Dort«, sagte Tess. Liam stromerte umher, nahm mit dem lässigen Blick eines Sechsjährigen die Geräte auf dem Spielplatz in Augenschein. Am unteren Ende einer großen, gelben, geschlossenen Rutsche hockte er sich hin, streckte den Kopf in die Öffnung und spähte hinein, als wollte er eine Sicherheitsprüfung durchführen.
»Ich habe ihn für einen Moment aus den Augen verloren.«
»Du musst ihn nicht die ganze Zeit im Auge behalten«, sagte Tess sanft. »Das ist meine Aufgabe.«
»Natürlich ist es das.«
Am Morgen beim Frühstück hatten sie sich beide gegenseitig umeinander kümmern wollen, wobei Tess mit zwei gesunden Knöcheln klar im Vorteil war und daher den Tee schon fast fertig hatte, bis ihre Mutter die Krücken überhaupt erst ergriffen hatte.
Tess sah Liam zu, der in die Ecke des Spielplatzes spazierte, wo der Feigenbaum stand, unter dem sie und Felicity immer gesessen und mit Angela Bungonia ihr Mittagessen eingenommen hatten. Durch Angela hatten sie Cannelloni kennengelernt. (Ein Pech für jemanden mit Felicitys Stoffwechsel.) Mrs. Bungonia, Angelas Mutter, hatte ihrer Tochter immer so viel mitgegeben, dass es für alle drei gereicht hatte. Damals war »Fettleibigkeit im Kindesalter« noch kein Thema gewesen. Tess schmeckten Cannelloni nach wie vor. Göttlich!
Sie bemerkte, wie Liam plötzlich ganz still dasaß und in eine Ecke stierte, als könnte er dort seine Mutter sitzen und Cannelloni essen sehen.
Tess fand es
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