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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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befremdlich, hier, an ihrer alten Schule, zu sein, als wäre die Zeit eine Decke, die man zusammengefaltet hatte, sodass sich die verschiedenen Zeiten überlappen und gegeneinandergedrückt werden.
    Sie müsste Felicity mal an die Cannelloni von Mrs. Bungonia erinnern.
    Nein. Das würde sie nicht tun.
    Da schwenkte Liam plötzlich herum und vollführte einen kraftvollen Karatekick gegen den Mülleimer, sodass er gewaltig schepperte.
    »Liam«, schimpfte Tess, allerdings nicht laut genug, dass er es hörte.
    »Liam! Schsch!«, rief ihre Mutter mit erhobener Stimme, legte einen Finger an die Lippen und zeigte in Richtung Kirche. Ein paar Trauernde waren gerade herausgekommen, standen beisammen und plauderten geziemend verhalten miteinander.
    Liam gehorchte. Ein folgsames Kind. Er hob stattdessen einen Stock auf und hielt ihn wie ein Maschinengewehr in der Hand, zielte stumm auf den Schulhof, während aus den Räumen des Kindergartens süße Kinderstimmen drangen, die ein Liedchen trällerten. Oh, mein Gott, wo hat er denn das gelernt? , dachte Tess bei sich. Sie musste besser darauf achten, welche Computerspiele er spielte, obwohl sie nicht umhinkam, seine authentische Darstellung zu bewundern, so wie er die Augen zusammenkniff – wie ein Scharfschütze. Sie würde es Will später erzählen. Er würde lachen.
    Nein. Sie würde es Will später nicht erzählen.
    Ihr Kopf schien die Neuigkeiten einfach nicht fassen zu können. Es war so wie letzte Nacht, als sie sich im Schlaf immer wieder zu Will hingerollt hatte, nur um seinen Platz leer zu finden und dann abrupt aus dem Schlaf zu fahren. Will und sie schliefen ruhig nebeneinander. Kein Zucken, kein Schnarchen und auch kein nächtliches Gezerre an den Bettdecken. »Ich kann ohne dich nicht richtig schlafen«, hatte Will gejammert, als sie erst wenige Monate zusammen waren. »Du bist wie ein Lieblingskissen für mich. Am liebsten will ich dich überallhin mitnehmen.«
    »Welche schreckliche, kleine Nonne genau?«, wiederholte Tess und betrachtete die Trauergemeinde. Für alte Erinnerungen wie diese war jetzt nicht die rechte Zeit.
    »Nicht alle waren schrecklich«, meinte ihre Mutter abwesend. »Die meisten von ihnen waren entzückend. Wie diese Schwester Margaret Ann, die auf die Party zu deinem zehnten Geburtstag kam. Sie war richtig schön. Ich glaube, dein Vater war ganz angetan von ihr.«
    »Im Ernst?«
    »Na ja, wahrscheinlich nicht.« Ihre Mutter zuckte mit den Schultern, als wäre es nur ein weiteres Beispiel für die Schwächen ihres Exmannes. »Egal, es muss die Beerdigung von Schwester Ursula sein. Habe im Pfarrbrief letzte Woche gelesen, dass sie gestorben ist. Ich glaube, du hattest sie nie als Lehrerin, oder? Sie war offenbar ganz gut darin, den Schülern mit dem Federstaubwedel auf die Finger zu hauen. Wer benutzt denn heutzutage noch Federstaubwedel? Ich frage mich, ob die Welt dadurch staubiger geworden ist?«
    »Ich meine, mich an Schwester Ursula zu erinnern«, erwiderte Tess. »Rotes Gesicht und Augenbrauen, so dick wie eine Raupe. Wir haben uns meist versteckt, wenn sie in der Pause auf dem Schulhof Aufsicht hatte.«
    »Ich bin gar nicht sicher, ob heute überhaupt noch irgendeine Nonne an der Schule unterrichtet«, sagte ihre Mutter. »Sie sind eine aussterbende Spezies.«
    »Im wahrsten Sinne des Wortes«, antwortete Tess.
    Ihre Mutter kicherte leise. »Oh, meine Liebe, ich meinte nicht …« Sie stockte, war abgelenkt durch jemanden am Kircheneingang. »Okay, mein Schatz, wappne dich! Habe gerade eine der Gemeindedamen gesichtet.«
    »Was?« Tess verspürte sofort ein Gefühl der Angst, als hätte ihre Mutter sie soeben auf einen flüchtigen Heckenschützen hingewiesen.
    Eine blonde, kleine Frau löste sich aus dem Grüppchen der Trauernden und lief schnellen Schrittes direkt auf sie zu.
    »Cecilia Fitzpatrick«, erklärte Lucy. »Die älteste Tochter der Bells. Sie hat John-Paul geheiratet, den ältesten Sohn der Fitzpatricks. Und den bestaussehenden, wenn du mich fragst, obwohl sie allesamt ein Bild von einem Mann sind. Cecilia hatte eine jüngere Schwester, glaube ich, die müsste so dein Jahrgang gewesen sein. Warte mal … Bridget Bell?«
    Irgendwo in Tess’ Hinterkopf flackerte eine vage Erinnerung an die Bell-Mädchen auf wie ein Spiegelbild im Wasser. Die Gesichter blieben zwar verschwommen, sie erinnerte sich nur an lange, dicke, blonde Zöpfe, die hinter den beiden herwehten, wenn sie durch die Schule rannten und tobten.
    »Cecilia

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