Die Wahrheit eines Augenblicks
gerade den Schlüssel in den Anlasser, um alle wieder nach Hause zu fahren, da klingelte ihr Handy. Sie nahm es aus der Konsole, um zu sehen, wer der Anrufer war.
Als sie den Namen auf der Anzeige las, hielt sie ihrer Mutter das Handy vor die Nase.
Lucy kniff die Augen zusammen, um den Namen lesen zu können, und lehnte sich dann mit einem Schulterzucken zurück. »Nun, ich musste es ihm erzählen. Ich habe ihm versprochen, ihn mit allem, was in deinem Leben so passiert, auf dem Laufenden zu halten.«
»Das hast du ihm schon versprochen, als ich zehn war!«, erwiderte Tess. Sie hob das Handy hoch, wusste nicht recht, ob sie nun abnehmen oder warten sollte, bis die Mailbox ansprang.
»Ist das Daddy?«, fragte Liam auf dem Rücksitz.
»Es ist mein Dad«, antwortete Tess. Irgendwann musste sie mit ihm sprechen. Warum also nicht jetzt? Sie holte tief Luft und drückte die Taste mit dem grünen Hörer. »Hallo, Dad.«
Stille in der Leitung. Wie immer.
»Hallo, Liebes«, sagte ihr Vater.
»Wie geht es dir?« In Tess’ Stimme schwang ein warmer Ton mit, der allein ihrem Vater vorbehalten war. Wann hatten sie sich zuletzt gesprochen? Musste an Weihnachten gewesen sein.
»Mir geht es prima«, antwortete er und klang dabei traurig.
Wieder Stille in der Leitung.
»Ich sitze gerade im Auto mit …« Tess begann den Satz zur gleichen Zeit, da ihr Vater sagte: »Deine Mutter hat mir erzählt, dass …«
Beide brachen ab. Es war schleppend und anstrengend, wie jedes Mal. Egal, wie sehr sie sich mühte, Tess fand mit ihrem Vater nie einen Takt. Selbst wenn sie von Angesicht zu Angesicht miteinander sprachen, schienen sie niemals einen natürlichen Fluss zu finden. Ob ihre Beziehung heute weniger schwerfällig wäre, wenn er und ihre Mutter sich nicht getrennt hätten? Diese Frage hatte Tess sich oft gestellt.
Er räusperte sich. »Deine Mutter hat erwähnt, du hast gerade ein bisschen … Ärger.«
Pause.
»Danke, Daddy …« Tess begann erneut genau in dem Moment, da ihr Vater sagte:
»Tut mir leid zu hören.«
Tess bemerkte, wie ihre Mutter die Augen rollte. Sie drehte sich leicht zur Seite und sah durch die Autoscheibe, als wollte sie ihren armen, hilflosen Vater vor Lucys verächtlichem Blick schützen.
»Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, dann … dann ruf einfach an.«
»Klar, mach ich«, sagte Tess.
Pause.
»Nun, ich muss los«, meinte Tess, wieder zur gleichen Zeit, da ihr Vater murmelte: »Ich mochte diesen Kerl.«
»Sag ihm, ich habe ihm einen Link gemailt für dieses Weinprobe-Seminar, von dem ich ihm erzählt habe«, warf ihre Mutter dazwischen.
»Schsch.« Genervt wedelte Tess mit der Hand in Richtung Lucy. »Ich hab dich nicht verstanden, Dad. Was hast du gesagt?«
»Will«, antwortete ihr Vater. »Ich finde, er war ein guter Kerl. Ja, doch das hilft dir jetzt auch nicht weiter, mein Liebling, nicht wahr?«
»Er wird sowieso nicht mitmachen«, brummelte ihre Mutter in sich hinein, während sie sich ihre Fingernägel besah. »Weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache. Dieser Mann will nicht glücklich sein.«
»Danke für deinen Anruf, Daddy«, sagte Tess zur gleichen Zeit, da ihr Vater wissen wollte: »Wie geht’s dem kleinen Mann?«
»Liam geht es gut«, versicherte Tess. »Er ist bei mir. Willst du ihn …«
»Dann lass ich euch mal fahren, Liebes. Pass auf dich auf!«
Ihr Vater hatte aufgelegt. Er beendete das Gespräch immer urplötzlich und in aller Hast, als wäre das Telefon verwanzt und er müsste auflegen, bevor die Polizei seinen Standort lokalisiert hatte. Sein »Standort« war eine kleine, ebene, baumlose Stadt auf der anderen Seite des Landes in West-Australien, die er rätselhafterweise vor fünfundzwanzig Jahren zu seinem Wohnort erkoren hatte.
»Dabei hatte er sicher jede Menge hilfreiche Ratschläge, ist doch wahr!«, sagte Lucy säuerlich.
»Er hat sein Bestes getan, Mum.«
»Oh, gewiss doch«, murmelte ihre Mutter selbstzufrieden.
9
»Es war also ein Sonntag, als der Mauerbau begann. Auch ›Stacheldraht-Sonntag‹ genannt. Wollt ihr wissen, warum?«, fragte Esther vom Rücksitz des Autos. Es war eine rhetorische Frage. Und natürlich wollten sie es alle wissen. »Weil jeder in der Stadt morgens aufwachte und da plötzlich dieser lange Stacheldrahtzaun mitten durch die Stadt ging.«
»Na und?«, brummelte Polly. »Ich hab auch schon oft ’nen Stacheldrahtzaun gesehen.«
»Aber man durfte nicht auf die andere Seite!«, sagte Esther.
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