Die Wahrheit eines Augenblicks
die Ellbogen gegen den Rollstuhl – wie ein aufgedrehtes kleines Kind. Ihre Tochter, die gerade dabei war, einen Anmeldebogen auszufüllen, blickte erschrocken auf. Tess war eine Frau mit einem jungenhaften Kurzhaarschnitt und herben Zügen, die mit ihrer strengen Schönheit durchaus bezaubern konnte. Ihr kleiner Sohn, der ihr bis auf die außergewöhnlich goldbraunen Augen sehr ähnlich sah, drehte sich ebenfalls verdutzt zu seiner Großmutter um.
Lucy rieb sich die Ellbogen. »Das wird bestimmt eine aufregende Zeit für deinen Sohn und deine Schwiegertochter. Nach allem, was du durchgemacht hast. Erst Janie zu verlieren … auf diese Weise, und dann noch deinen Mann … Entschuldige, ich komme jetzt gar nicht auf seinen Namen, aber ich weiß, dass du auch ihn verloren hast … Nun, es scheint einfach nicht fair.«
Bis sie zu Ende gesprochen hatte, waren ihre Wangen puterrot. Rachel merkte Lucy an, dass sie über sich selbst erschrocken war. Sie wusste, dass die Leute stets Angst hatten, sie könnten sie völlig unbeabsichtigt an den Tod ihrer Tochter erinnern – als könnte er ihr je entfallen!
»Es tut mir so leid, Rachel, ich hätte nicht …« Die arme Lucy sah völlig fertig aus.
Rachel winkte nur kurz ab. »Schon gut, es muss dir nicht leidtun. Danke. Aber ich werde den Kleinen schrecklich vermissen.«
»Na, wen haben wir denn da?«
Trudy Applebee, Rachels Chefin und Schulrektorin, wehte feengleich herein, einen leicht verrutschten Häkelschal (ihr Markenzeichen) über den knochigen Schultern, ein paar einzelne graue Strähnen im Gesicht und einen kleinen roten Kreidefleck auf der linken Wange. Wahrscheinlich hatte sie mit den Vorschulkindern auf dem Boden gesessen und gemalt. Und wie es sich für eine Schulrektorin gehört, sah Trudy geradewegs an Lucy O’Leary und Tess vorbei und lenkte ihren Blick auf Liam. Die Erwachsenen interessierten sie nicht, was ihr eines Tages noch das Genick brechen würde. In ihrer Zeit als Schulsekretärin hatte Rachel ganze drei Rektoren kommen und gehen sehen, und es war nach all ihren Erfahrungen unmöglich, eine Schule zu leiten und die Erwachsenen dabei zu ignorieren. Eine Schule zu leiten war eine politische Aufgabe.
Zudem schien Trudy nicht katholisch genug zu sein für diesen Job. Nicht, dass sie in einem fort die Zehn Gebote brechen würde, doch während des Gottesdienstes hatte sie einen un frommen, funkelnden Ausdruck im Gesicht. Wahrscheinlich hatte Schwester Ursula (deren Beerdigung Rachel eben boykottiert hatte, weil sie ihr nie verziehen hatte, dass sie Janie mit einem Federstaubwedel geschlagen hatte) vor ihrem Tod noch an Vatikan und Schulbehörde geschrieben, um sich über sie zu beschweren.
»Das ist der Junge, von dem ich vorhin gesprochen habe«, sagte Rachel. »Liam Curtis. Er kommt in die erste Klasse.«
»Ja, natürlich. Willkommen in der St.-Angela-Schule! Ich habe eben gedacht, als ich die Treppe hochgelaufen bin, dass ich heute jemanden kennenlerne, dessen Name mit dem Buchstaben ›L‹ beginnt, der zufällig einer meiner Lieblingsbuchstaben ist. Sag mir mal, Liam, was du von diesen drei Dingen am liebsten magst?« Sie zählte die Stichworte an den Fingern. »Dinosaurier? Außerirdische? Superhelden?«
Liam dachte ernsthaft nach.
»Dinos mag er eigentlich ganz gerne …«, fing Lucy O’Leary an, doch Tess legte sogleich ihre Hand auf den Arm ihrer Mutter.
»Außerirdische«, sagte Liam schließlich.
»Außerirdische!« Trudy nickte. »Nun, das werde ich mir merken, Liam Curtis. Und das hier sind deine Mutter und deine Großmutter, nehme ich an.«
»Ja, in der Tat, ich bin …« Lucy O’Leary hob erneut an.
»Schön, Sie beide kennenzulernen.« Trudy lächelte vage in die Richtung der zwei Frauen. Dann wandte sie sich mit einer anmutigen Bewegung wieder Liam zu. »Wann fängst du denn bei uns an, Liam? Morgen?
»Nein!« Tess blickte erschrocken drein. »Nicht vor Ostern.«
»Oh, warum warten?, sage ich immer. Was du heute kannst besorgen …«, erwiderte Trudy. »Magst du Ostereier, Liam?«
»Ja«, sagte er entschieden.
»Weil wir für morgen eine gigantische Ostereiersuche geplant haben.«
»Oh, Ostereier suchen kann ich super«, rief Liam.
»Ach, wirklich? Ausgezeichnet! Dann sollte ich sie besser besonders gut verstecken.« Trudy warf einen Blick zu Rachel. »Haben wir alles unter Kontrolle, Rachel, mit diesen ganzen …?«
Mit leidiger Miene gestikulierte sie in Richtung der Papiere auf dem Schreibtisch, denn von
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