Die Wahrheit eines Augenblicks
an.«
»Nein, tut er nicht«, widersprach Esther.
»Doch, als täten ihm dabei die Augen weh. Als wäre er böse und gleichzeitig traurig. Besonders, wenn sie den neuen Rock anhat.«
»Na, jetzt redest du aber Blödsinn«, sagte Cecilia. Was um Himmels willen meinte das Kind? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, Polly beschreibt John-Paul gerade als einen Lustmolch.
»Vielleicht ist Daddy wegen irgendetwas böse auf Isabel«, überlegte Polly. »Oder er ist traurig, dass sie seine Tochter ist. Mum, weißt du, warum Daddy böse ist auf Isabel? Hat sie etwas angestellt?«
Panikartige Angst stieg in Cecilias Kehle auf.
»Er wollte wahrscheinlich das Kricket-Spiel im Fernsehen sehen«, sinnierte Polly dann. »Und Isabel etwas anderes. Ich weiß auch nicht.«
Isabel war in letzte Zeit ziemlich grantig gewesen, gab keine Antwort, wenn man sie etwas fragte, schlug die Tür zu, aber war das nicht ganz normal für zwölfjährige Mädchen?
Cecilia dachte an all die Geschichten, die sie über sexuellen Missbrauch gelesen hatte. Geschichten im Daily Telegraph , wo eine Mutter neulich mit den Worten zitiert worden war: »Ich hatte keine Ahnung.« Cecilia hatte nur gedacht: Wie kann man so etwas nicht mitbekommen? Sie las diese Geschichten immer mit einem wohligen Gefühl der Erhabenheit. Meinen Töchtern könnte das nicht passieren .
John-Paul konnte hin und wieder launisch sein. Ein steinernes Gesicht machen. Und manchmal war nicht vernünftig mit ihm zu reden. Aber waren nicht alle Männer von Zeit zu Zeit so? Cecilia erinnerte sich, wie sie, ihre Mutter und ihre Schwester früher auf die Launen ihres Vaters Rücksicht genommen hatten.
Aber John-Paul würde seinen Töchtern niemals etwas zuleide tun. Das war lächerlich. Das war Stoff für die billigen Talk-Sendungen im Nachmittagsprogramm. Es war Verrat an John-Paul, wenn sie auch nur den Hauch eines Gedankens daran zuließ. Cecilia würde ihr Leben darauf verwetten, dass John-Paul keine seiner Töchter jemals sexuell missbrauchen würde.
Und wenn doch?
Nein. Sollte auch nur die geringste Gefahr bestehen …
Du lieber Gott, was sollte sie tun? Isabel fragen: Hat Daddy dich jemals angefasst? Opfer logen doch bekanntermaßen. Missbrauchstäter setzten sie unter Druck, damit sie sie nicht verrieten. Cecilia wusste um diese Mechanismen. Sie las diese ganzen Schund-Geschichten und genoss das Gefühl, eine erlösende kleine Träne verdrücken zu können, bevor sie die Zeitung zusammenfaltete, sie in die Mülltonne steckte und all das wieder vergaß. Diese Geschichten bereiteten ihr eine Art krankhaftes Vergnügen, wohingegen John-Paul sich stets weigerte, sie zu lesen. War das ein Indiz für seine Schuld? Aha! Wenn man über diese kranken Menschen nichts lesen will, dann war man selbst krank!
»Mum!«, rief Polly.
Wie könnte sie John-Paul darauf ansprechen? Hast du jemals etwas Unsittliches mit einer unserer Töchter angestellt? Wenn er ihr so eine Frage stellen würde, würde sie ihm das niemals verzeihen. Wie konnte eine Ehe weitergehen, wenn eine Frage wie diese im Raum stand? Nein, ich habe unsere Töchter nie sexuell belästigt. Reich mir doch bitte mal die Erdnussbutter !
»Mum!«, rief Polly erneut.
»Was?«
Wenn du mich kennen würdest, bräuchtest du nicht zu fragen, würde er sagen. Wenn du die Antwort nicht kennst, dann kennst du auch mich nicht .
Sie kannte die Antwort. Ja, sie kannte sie!
Aber all diese doofen anderen Mütter dachten auch, die Antwort zu kennen.
Und John-Paul war am Telefon so komisch gewesen, als sie ihn nach diesem Brief gefragt hatte. Er hatte ihr irgendetwas vorgelogen. Da war sie sich ganz sicher.
Und dann noch diese sexuellen Probleme in ihrer Ehe. Vielleicht hatte er ja das Interesse an ihr verloren, weil er jetzt nach Isabels jungem Körper gierte, der sich gerade zu verändern begann. Doch das war ja lachhaft. Ekelhaft. Ihr war schlecht.
» MUM !«
»Mmm?«
»Sieh mal! Du bist an der Straße glatt vorbeigefahren. Jetzt kommen wir zu spät!«
»Mist! Tut mir leid.«
Sie trat voll auf die Bremse und wendete in den Gegenverkehr. Von hinten hörte sie wildes Hupen. Sie bekam einen Mordsschreck, als sie im Rückspiegel einen riesigen Laster erblickte.
»Verdammt.« Sie hob entschuldigend eine Hand. »Tut mir leid. Ja, ja. Ich weiß!«
Der LKW -Fahrer war außer sich und hielt die Hupe gedrückt.
»Tut mir leid!!« Nachdem sie den Wagen komplett gewendet hatte und in Gegenrichtung weiterfahren wollte,
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