Die Wahrheit eines Augenblicks
»Man saß fest! So, als wohnten wir auf dieser Seite des Pacific Highway und Grandma auf der anderen Seite.«
»Wäre jammerschade«, murmelte Cecilia, während sie einen Blick über die Schulter warf, um die Fahrbahn zu wechseln. Nach dem Zumba-Kurs am Morgen hatte sie ihre Mutter besucht, und ganze zwanzig Minuten (die sie eigentlich gar nicht übrig hatte) damit zugebracht, durch eine Kindergarten-Mappe mit Basteleien und Malereien ihres Neffen zu blättern. Bridget schickte Sam in einen vornehmen, sündhaft teuren Kindergarten, und Cecilias Mutter konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich darüber freuen oder entrüsten sollte. Cecilia hatte sich entschieden, es urkomisch zu finden.
»Ich wette, deine Mädchen haben in diesem gewöhnlichen, kleinen Kindergarten, in den sie gegangen sind, nicht so eine Mappe bekommen«, hatte ihre Mutter gesagt, während Cecilia versucht hatte, die Seiten immer schneller umzublättern. Sie wollte noch ein paar Lebensmittel einkaufen, bevor sie dann die Mädchen von der Schule abholte.
»Ich denke ja, dass man heute in so gut wie jedem Kindergarten solche Sachen bastelt«, hatte Cecilia erwidert, aber das hatte ihre Mutter überhört, weil sie sich gerade übertrieben begeistert über Sams Fingerfarben-»Selbstporträt« ausließ.
»Stell dir doch mal vor, Mum«, meldete sich Esther nun wieder zu Wort, »wenn wir Kinder übers Wochenende gerade bei Grandma in West-Berlin gewesen wären, als der Mauerbau begann, und du und Daddy, ihr hättet in Ostberlin festgesessen. Dann hättet ihr uns sagen müssen: ›Bleibt bei Grandma, Kinder! Kommt nicht mehr zurück! Dort seid ihr in Freiheit‹ !«
»Ist ja furchtbar«, murmelte Cecilia.
»Ich wäre trotzdem zu Mummy gegangen«, rief Polly. »Bei Grandma muss man immer Erbsen essen.«
»Das ist Geschichte, Mum«, sagte Esther. »Das ist tatsächlich so passiert. Familien wurden auseinandergerissen. Und keinen hat’s gekümmert. Sieh mal! Diese Leute hier heben ihre Babys hoch, um sie ihren Verwandten auf der anderen Seite zu zeigen.«
»Ich muss auf die Straße schauen«, seufzte Cecilia.
Dank Esther hatte Cecilia sich in den vergangenen sechs Monaten auf der Titanic gesehen und sich vorgestellt, wie sie ertrinkende Kinder aus dem eisigen Wasser des Atlantiks fischte, während das riesige Kreuzfahrtschiff langsam unterging. Jetzt also sah sie sich in Berlin, getrennt von ihren Kindern durch die Mauer.
»Wann kommt denn Daddy aus Chicago zurück?«, wollte Polly wissen.
»Freitagvormittag!« Cecilia warf Polly durch den Rückspiegel ein Lächeln zu, dankbar für den Themenwechsel. »Er kommt Karfreitag wieder. Es wird ein sehr schöner Karfreitag, weil Daddy wieder da ist.«
Auf dem Rücksitz war es nun still. Ein deutliches Zeichen, dass ihre Töchter keine Lust hatten weiterzureden.
Sie steckten wie jeden Tag nach der Schule mitten im ganz normalen nachmittäglichen Drunter und Drüber. Cecilia hatte eben Isabel beim Friseur abgesetzt, fuhr Polly jetzt zum Ballett und Esther zur Sprachtherapie. (Esthers kaum hörbares Lispeln, das Cecilia ganz bezaubernd fand, war heutzutage offenbar nicht mehr akzeptabel.) Anschließend galt es, schnell, schnell, schnell das Abendessen zuzubereiten, die Schulaufgaben erledigt und kontrolliert zu bekommen, bevor ihre Mutter kam, um auf die Kinder aufzupassen, während Cecilia auf eine Tupper-Party ging.
»Ich habe noch ein Geheimnis, das ich Daddy erzählen muss«, sagte Polly. »Wenn er heimkommt.«
»Ein Mann hat versucht, sich durch das Fenster aus seiner Wohnung abzuseilen, und der Feuerwehrmann in West-Berlin hat versucht, ihn mit einem Sicherheitsnetz aufzufangen, hat ihn aber verfehlt, und der Mann starb.«
»Mein Geheimnis ist, dass ich gar keine Piratenparty mehr will«, platzte Polly heraus.
»Er war dreißig«, fügte Esther hinzu. »Also hat er bestimmt schon ein schönes Leben gehabt.«
»Was?«, fragte Cecilia.
»Ich sagte, er war dreißig«, rief Esther. »Der Mann, der starb.«
»Nicht du. Polly, was hast du gesagt?«
Da sprang die Ampel auf Rot, und Cecilia stieg auf die Bremse. Die Tatsache, dass Polly keine Piratenparty mehr veranstalten wollte, war bei Gott unerheblich im Vergleich zu dem armen Mann (dreißig!), der für die Freiheit, die Cecilia als selbstverständlich nahm, in die Tiefe gestürzt war – aber jetzt gerade hatte sie keine Minute zur Ehrung seines Andenkens übrig, denn eine kurzfristige Änderung des Themas für die Motto-Party war völlig
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