Die Wahrheit stirbt zuletzt
Stimmung besserte. Die Kälte machte sich immer mehr bemerkbar. Die Erschöpfung ebenso. Als der Zug vorbeigefahren war, ließ ich die Cognacflasche kreisen und nickte Rafael zu, uns noch das letzte Stück zu führen. Es beeindruckte mich, dass der ältere Mann ein so konstantes und hohes Tempo halten konnte.
Wir kamen beim Tunnel an. Ich gab den Befehl, einige hundert Meter davon entfernt anzuhalten und uns in unsere Decken zu hüllen. Es war dunkel, aber durch den Schnee entstand ein schwaches Licht, sodass man die Bahngleise erkennen konnte, die jetzt vier bis fünf Meter unter uns verliefen. Als das graue Tageslicht wie ein ungewöhnlich reiner und zarter Nebel langsam emporstieg, schickte ich Mads zusammen mit Rafael voraus. Nach einer Viertelstunde blinkte er dreimal schnell mit seinerTaschenlampe, und der Rest unserer Gruppe ging vorsichtig auf dem schmalen Pfad zum Eisenbahntunnel hinunter, den man oberhalb der Landstraße, die weiter unten in lang gezogenen Haarnadelkurven verlief, in den Berg gesprengt hatte. Das Licht brach über dem leeren weiß gesprenkelten Tal durch, und es kam uns so vor, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt, so still war es.
Karl-Heinz bereitete ein Seil vor, und Mads und ich seilten uns vor der Tunnelöffnung ab. Karl-Heinz und Henri bezogen vor den beiden Tunnelöffnungen ihre Verteidigungsposten, wo sie freie Sicht auf die Bahnschienen und die Landstraße hatten, die eigentlich nichts weiter als ein schmaler, vereister Schotterweg war. Vincente und Federico seilten ihre Rucksäcke auf die einsame Bahnlinie ab, bevor sie ebenfalls ihre Verteidigungsposten einnahmen. Mads und ich konnten die Sprengsätze ohne Probleme allein anbringen. Ich hatte als Dreizehnjähriger angefangen, in den Minen zu arbeiten, und meinen ersten Sprengkurs hatte ich mit sechzehn besucht. Das Dynamit begleitete mich also schon mein halbes Leben.
Es drang nicht viel Licht in den Tunnel, aber es reichte aus, um mithilfe meiner Taschenlampe vier Stellen auszumachen, an denen die Felsstruktur brüchig war. An einer Stelle hatte man die Tunneldecke verstärkt. Das war ein geeigneter Ort, um einen Teil des Dynamits zu befestigen, auch wenn es ein wenig mühsam werden würde, dort hinaufzugelangen. Es kam vor allem darauf an, die Dynamitstangen und die Zündsätze so anzubringen, dass die Wände durch die Abfolge der Sprengungen am Ende tatsächlich zum Einsturz gebracht wurden. Nach einer Weile wusste ich, wie es am besten funktionieren würde: Wir mussten die Sprengsätze an vier Stellen auf der einen Seite anbringen und an zwei auf der anderen.
Ich sagte Mads, was zu tun war, und wir begannen mit unserer Arbeit. Die trockene Kälte verlangsamte die Prozedurerheblich, weil wir immer wieder die Handschuhe anziehen mussten, um unsere Finger aufzuwärmen. Wir schlugen Haken, wie Bergsteiger sie benutzen, in die Wand, damit wir sie als Stufen zum Abstützen nutzen konnten. Mit dem Hammer trieben wir Stemmeisen in Risse im Fels, um sie größer und tiefer zu machen, sodass wir die Dynamitstangen dort hineinpressen konnten. Ich versuchte mir die verschiedenen Sprengungsabschnitte vorzustellen und mir auszumalen, wie die Druckwelle sich auf die Strukturen im Berg auswirken würde, sodass die Decke, wenn ich Glück und gut gearbeitet hatte, am Ende über den Schienen einstürzen würde.
Mads und ich wollten so viel Schaden wie möglich anrichten. Daher brauchten wir eine ganze Weile, und ich merkte, dass Mads langsam unruhig wurde und sich fragte, ob nicht doch ein Zug kommen würde. Trotzdem arbeitete er konzentriert und sicher im Schein des Tageslichts, das durch die Tunnelöffnung hereindrang und ein dunkles Dämmerlicht entstehen ließ. Für die Feinarbeit benutzten wir dann unsere Taschenlampen. Unsere Kameraden passten auf uns auf, und ich kannte Karl-Heinz und Henri gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Verteidigungsposten so gesichert und getarnt hatten, dass man sie vom Weg aus nicht sehen konnte.
Deshalb traf es uns auch völlig unvorbereitet, als wir die Schüsse hörten. Es war das ungewohnte Geräusch des modernen deutschen Maschinengewehrs, das vom anderen Ende des Tunnels zu uns herüberdrang, außerdem die Detonationen von zwei Handgranaten. Was zum Teufel passierte da? Mads hing mit einer Hand an einem Seil, das er zwischen zwei Eisenhaken gespannt hatte, während er mit der anderen Dynamit in eine der Felsspalten stopfte, die er zuvor vergrößert hatte. An dem Tunnelende, in dessen
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