Die Wahrheit stirbt zuletzt
sind mit einer braunen Spange zurückgesteckt. Sie sieht ihn nicht an, als sie ihm mitteilt, dass der Herr Redakteur nun Zeit für ihn habe und ihn in seinem Büro erwarte, sondern deutet nur auf die doppelte Flügeltür, deren eine Seite halb geöffnet ist. Dann kehrt sie an ihren kleinen Schreibtisch zurück, auf dem ein schwarzes Telefon und eine große Schreibmaschine stehen. Im Inneren des Gebäudes, wo die Journalisten untergebracht sind, hört Meyer Schreibmaschinen klappern. Im unteren Teil des Hauses ist ein Rumpeln zu hören, vermutlich weil die Rotationspresse soeben in Betrieb genommen wurde. Die Mittagspause ist vorbei und die Nachmittagsausgabe der Zeitung in Arbeit.
Der Regen prasselt gegen die Sprossenfenster und hat Herbstkälte mitgebracht. Als Meyer eintritt, sitzt Brodersen hinter einem breiten dunkelbraunen Schreibtisch, ein kleiner, agiler Mann, der einen dunklen Anzug mit passender Weste und einen dunkelblauen Schlips trägt, den er so eng geknotet hat, dass der Hemdkragen ihm den Hals abzuschnüren scheint. Er ist fast weißhaarig und hatweiße Augenbrauen in einem langen Gesicht, das kindlich wirkt, obwohl er mindestens fünfundvierzig Jahre alt sein muss – ein Gesicht, das aussieht, als sei es noch nie mit Rasierschaum und Rasiermesser in Berührung gekommen. Seine Stimme ist ebenso hell wie sein Äußeres, und seine Bewegungen haben beinahe etwas Feminines, was Magnus an die Strichjungen aus dem Slum in Buenos Aires denken lässt, auch wenn ihm der Vergleich unpassend erscheint.
Ein unbekannter Herr mit Weste und goldener Uhr hängt neben König Christian X. an der Wand und scheint das Geschehen ein wenig von oben herab zu betrachten. An der anderen Wand stehen hohe Regale mit in Leder gebundenen Büchern, die niemals eine Menschenhand berührt zu haben scheint, davor ein kleiner Sofatisch und zwei bequeme Sessel. Ein weiterer Stuhl steht gegenüber vom Schreibtisch. Seine Rückenlehne ist nicht ganz so hoch wie die des Schreibtischstuhls, aus dem der Redakteur sich nun erhebt.
Brodersens Händedruck ist kurz und fest. Er lächelt, aber Magnus kann nicht erkennen, ob das Lächeln auch seine blassen Augen erreicht. Brodersen legt seine schmale Brille auf die aufgeschlagene Zeitung des Tages, wobei sich der Geruch von frischer Druckerschwärze mit dem der Zigarre im Aschenbecher vermischt, erhebt sich und geht mit ausgestreckter Hand um den Schreibtisch herum. Er deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sagt: »Guten Tag, Magnus Meyer. Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber Sie sind ein richtig erwachsener Mann geworden. Vor sieben Jahren habe ich Sie einmal kurz gesehen, als ich neu in die Stadt gekommen bin und die Zeitung hier übernommen habe. Nehmen Sie doch bitte Platz. Eine Zigarre?«
Magnus lehnt dankend ab, setzt sich und hält stattdessen sein Zigarettenetui fragend in die Luft. Brodersenschüttelt leicht den Kopf und gibt Magnus Feuer, setzt sich auf seinen Schreibtischstuhl mit der hohen Lehne und greift nach der Zigarre im Aschenbecher. Sie ist ausgegangen, was er leicht verwundert zur Kenntnis nimmt. Dann legt er sie mit einer energischen Bewegung zur Seite und sagt mit seiner hellen Stimme: »Ja. Damals waren Sie nur ein großer und – entschuldigen Sie bitte – etwas ruchloser Bengel. Die Welt hat Ihnen gutgetan, wie man sieht. Sie waren in Argentinien und den USA, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Sehr interessant. Darf man fragen, was Sie dort gemacht haben?«
»Dies und das. Ich habe längere Zeit auf verschiedenen Rinderranches in Texas und Argentinien gearbeitet.«
»Das klingt spannend. Auch für meine Leser. Argentinien ist sehr weit weg, sehr exotisch. Uns allen fremd. Könnten Sie sich vorstellen, für die Zeitung einen Bericht über Ihre Reisen zu schreiben? Gegen ein anständiges Honorar, versteht sich.«
»Ich fürchte, dafür fehlt mir die Zeit.«
»Vielleicht können Sie einem meiner Mitarbeiter stattdessen ein Interview geben? Der verlorene Sohn kehrt in seine Heimatstadt zurück und so weiter.«
»Das wird sich im Moment leider nicht einrichten lassen.«
»Verstehe. Ihr Vater sagte mir bereits, dass Sie vermutlich nicht wollen.«
»Ich glaube auch nicht, dass ich etwas Besonderes zu erzählen hätte.«
»Das hätten Sie gewiss, aber lassen wir das jetzt. Darf ich Ihnen ein Glas Portwein oder Sherry anbieten? Oder vielleicht einen Whisky Soda?«
»Nein, danke. Ich möchte im Moment nichts.«
Brodersen sieht ihn mit seinen blassen
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