Die Wahrheit stirbt zuletzt
Hintergrund. Er blickte auf grüne Felder, staubgrauen Sand und rostfarbene Erde hinunter. Der Fluss schlängelte sich vomLandesinneren bis zum Meer. Sie flogen tief über eine Militärkolonne hinweg, die nur langsam vorwärtskroch. In der Mitte der Straße fuhren Lastwagen und Artillerie, die von Pferden gezogen wurde, links und rechts davon marschierten Soldaten.
Eine seltsame Mischung aus Spannung und Freude erfüllte ihn, weil er jetzt endlich in das Land kam, an das er so oft gedacht hatte. Er hatte sich damals nach Argentinien aufgemacht, weil er sich keinen weiter von der Heimat entfernten Ort vorstellen konnte, aber als Kind hatte er oft von Spanien geträumt. Er kannte es nur aus Erzählungen, es war ihm wie das genaue Gegenteil des flachen, langweiligen Dänemark vorgekommen. In seinen Träumen war es eine Kakophonie von Farben und Gerüchen, starken Männern und geheimnisvollen Frauen, großen Bergen und reißenden Flüssen, stolzen Stieren und kräftigem Rotwein.
Im Flugzeug hatte er mit leisem Staunen an sein früheres Ich gedacht, an die kindliche Naivität und die vermeintliche Vorhersehbarkeit seines Lebens, doch dann war auf einmal das Bild seines kleinen Bruders vor seinem inneren Auge aufgetaucht, und eine plötzliche Angst hatte ihn ergriffen.
Trotz der Jahreszeit ist es noch warm, als er zusammen mit den anderen Passagieren, überwiegend Presseleuten aus Frankreich und den USA, zum Flughafengebäude hinübergeht. Zwei der insgesamt zwölf Passagiere halten sich etwas abseits. Sie sprechen Spanisch, und Magnus vermutet, dass sie Waffenhändler sind, die im Auftrag der Republik in Frankreich auf dem Schwarzmarkt Waffen gekauft haben. Er erfreut sich am Klang der spanischen Sprache. Es ist ein anderes Spanisch, als sie in Argentinien sprechen, aber er hat keine Schwierigkeiten, zu verstehen, was der Passbeamte sagt. Er trägt eine ungepflegte Uniform,sein Hemdkragen ist nicht richtig zugeknöpft, und er hat Flecken auf der Hose. In seinem Gürtel steckt eine Pistole. Er schaut sich Meyers Pass, seine Akkreditierungen und Stempel an und sagt: »Willkommen im kämpfenden Spanien.« Er stinkt nach Schweiß, Tabak und Knoblauch.
Neben Magnus steht ein großer Mann. Er hat breite Schultern und schwarze Haare, die von der Stirn aus gerade nach hinten gekämmt sind. Ein schwarzer Schnurrbart wölbt sich über eine schmale Oberlippe und einen vorstehenden Unterkiefer. Sein Kopf ist groß und viereckig. Die schweren Schultern bilden ein Gegengewicht zum beginnenden Bauchansatz. Er trägt ein offenes Hemd, eine dunkle Leinenhose und eine Jacke, wie Magnus sie von den Cowboys im Westen der USA kennt, und an den Füßen helle, weiche Stiefel. Er fächelt sich einen Moment lang mit einem breitkrempigen Hut Luft zu, bevor er diesen wieder auf den Kopf setzt.
Der Mann, allem Anschein nach Amerikaner, spricht kein Spanisch. Der Passbeamte nimmt seinen Pass und reicht ihn einem Mann in Zivil mit gedrungenem Oberkörper und einer weißen Narbe auf der gebräunten Wange. Ein Stück hinter ihm steht ein weiterer Mann in Zivil. Er ist wohlproportioniert und trägt einen hellen Anzug, sein Hemdkragen ist geöffnet. Nachdem er den Pass des Amerikaners studiert hat, gibt er ihn dem gedrungenen Mann zurück. Magnus bleibt stehen.
Der Gedrungene sagt auf Spanisch: »Willkommen zurück, Señor Mercer. Sie haben einen Stempel aus Malaga in Ihrem Pass. Was haben Sie denn dort auf der anderen Seite gemacht?«
Mercer antwortet auf Englisch, dass er kein Spanisch spreche. Der Mann im hellen Anzug wiederholt die Frage auf Deutsch mit einem starken slawischen Akzent. Mercer blickt hilfesuchend zu Magnus herüber, der auf Spanischsagt, dass der amerikanische Gentleman weder Spanisch noch Deutsch verstehe, und fragt, ob er vielleicht behilflich sein könne.
Das kann er, alle sind höflich, und dennoch spürt Magnus, dass unter der freundlichen Oberfläche ein Misstrauen lauert, das die Stimmung jederzeit kippen lassen kann. Der Amerikaner holt einen Brief aus seiner Schultertasche hervor. Er ist auf Spanisch, stammt von dem amerikanischen Komitee, das Gelder für den Kampf der Republikaner sammelt, und besagt, dass der Aufenthalt auf der Seite der Faschisten in Malaga von höchster Stelle sanktioniert und Teil des Propagandakampfes gewesen sei. Der Amerikaner hat einen weiteren Brief bei sich, von Ernest Hemingway unterschrieben, der darum bittet, Joseph Mercer in jeder Hinsicht zu unterstützen.
Der Passbeamte und der
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