Die Wahrheit stirbt zuletzt
die?«
Mercer leert ebenfalls sein Glas, bevor er antwortet: »Der SIM ist ein neuer militärischer Nachrichtendienst. Die Kommunisten haben dort das Sagen, und er hat den Ruf, sehr effektiv zu sein und aus richtig scharfen Hunden zu bestehen, deren Aufgabe es ist, diejenigen unschädlich zu machen, die sie ›Fünfte-Kolonne-Leute‹ nennen.«
»Was sind das für Leute?«
»Spione, Überläufer, Saboteure, Verräter und Trotzkisten, also im Grunde alle, die nicht Kommunisten oder Komintern-Leute sind.« Mercer lacht, aber seine Augen bleiben ernst.
»Das sind ja nicht gerade wenige.«
»Nein. Die Republik frisst ihre eigenen Kinder. Der SIM wurde vor nicht allzu langer Zeit ins Leben gerufen, als die Regierung Negrin von Valencia nach Barcelona umgezogen ist. Barcelona ist voll von Milizsoldaten und anderen Anarchisten, man muss ihnen also etwas entgegensetzen. Mit Entschlossenheit, wie sie es nennen. Kamerad Stalin und Moskau schwingen jetzt den Taktstock.«
»Okay. Und wofür steht SIM?
»Ich kann kein Spanisch, aber es bedeutet so etwas wie militärischer Nachrichtendienst.«
»SIM. Servicio de Investigación Militar?«
»Das klingt richtig. Der SIM dient der Zentralisierung des Widerstandes gegen die Faschisten, aber damit natürlich auch der Zentralisierung der Macht. Wo hast du so gut Spanisch gelernt?«, fragt Mercer unvermittelt, als betrachte er das andere Thema als erschöpfend behandelt oder als zu riskant, um in einem offenen Hof unter Palmen darüber zu sprechen.
»In Argentinien«, antwortet Magnus und erzählt ein wenig vom Leben als Gaucho in der Prärie, aber nichts davon, dass er Hals über Kopf geflohen war, weil er jemandenhatte töten müssen. Das hat er tief in seinem Inneren vergraben, darüber will er mit niemandem sprechen.
Mercer erzählt von seinem Leben als Reporter in den USA und in China. Er ist achtundzwanzig Jahre alt und war schon einmal verheiratet. Wenn er mal kein Journalist mehr ist, will er einen verdammt guten Roman schreiben und richtig reich werden. Das meiste davon sagt er mit seinem breiten amerikanischen Grinsen, sodass Magnus sich nicht immer darüber im Klaren ist, was davon wirklich ernst gemeint ist, aber er genießt die Gesellschaft dieses unkomplizierten Amerikaners.
Man bringt ihnen Kaffee und Cognac, und sie rauchen Zigaretten. Auf einmal schaut Joe ihn mit ernsten Augen an, beugt sich über den Tisch und sagt etwas, das Magnus sofort an Svend Poulsen erinnert: »Magnus, dieses Land ist besessen vom Tod. Es ist kein Wunder, dass die Spanier den Stierkampf erfunden haben, der ein ritualisiertes Spiel mit dem Tod ist. Man muss anständig sterben, sagen sie. Man muss ehrenhaft sterben, sagen sie. Was ist das bloß für ein Unsinn. Die Faschisten rufen: ›Lang lebe der Tod!‹ – und rücken vor. Die Miliz und die Heereseinheiten der Republik rufen: ›Tod den Faschisten!‹ – und rennen mitten hinein ins Maschinengewehrfeuer. Der Großteil des Fußvolkes kann weder lesen noch schreiben, aber sie können den Tod anrufen, als wäre er das Begehrenswerteste auf der Welt. Ehre und Schande und der Sensenmann gehören in diesem Land zusammen. Während der ersten Wochen im Sommer ’36 erfasste sie ein wahrer Blutrausch. Sie ermordeten wahllos Zivilgardisten, Gutsbesitzer, Priester und Nonnen. Sie brannten Kirchen und Klöster nieder. Im Grunde verstehe ich sie sogar. Endlich konnte die Unterschicht sich gegen die Quälgeister wehren, die so lange die Macht über sie hatten, aber es war verdammt scheußlich, es mit anzusehen. Der Blutrauschverebbte irgendwann. Die Regierung bekam die Lage besser unter Kontrolle, aber der Totentanz geht weiter, und die Faschisten sind viel besser organisiert. Wie du weißt, war ich gerade in Malaga …«
Mercer hält inne und zündet sich eine neue Zigarette an. Magnus macht dem Hausherrn, der sowohl der Koch als auch der Kellner ist, ein Zeichen. Er kommt mit der Cognacflasche und schenkt ihnen nach. Magnus zündet sich ebenfalls eine Zigarette an.
»Malaga ist eine schöne Stadt am Meer«, fährt Joe fort, »mit malerischen Palmen, sehr eleganten Häusern, atemberaubenden Frauen und den feinsten Sandstränden, die du dir vorstellen kannst. Selbstverständlich gibt es dort auch eine Stierkampfarena. Der Gouverneur hat uns mit dorthin genommen. Wir haben in der Loge gesessen, in der die vornehmen Leute sitzen, wenn sie zum Stierkampf gehen. Er sagte, ich solle zusehen, wie der Gerechtigkeit Genüge getan werde, und darüber
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