Die Wahrheit stirbt zuletzt
berichten, damit die Welt endlich verstehe, dass den Feinden des Kreuzes keine Gnade zuteilwerde. Hundertsieben Männer zogen in die Arena ein. Die jüngsten von ihnen waren gerade mal fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die ältesten vielleicht sechzig. Sie stellten sie in Zehnerreihen jeweils zehn Soldaten gegenüber. Peng. Nicht alle wurden von den Kugeln getroffen, und schon gar nicht tödlich, aber den Rest erledigten die Soldaten dann mit Messern oder Bajonetten. Die Faschisten verstehen sich verdammt gut auf den Umgang mit dem Messer. Sie schrien wie die Verrückten, und es stank nach Blut und Scheiße. Einige riefen ›Lang lebe die Freiheit!‹ und ›Ihr seid verfluchte Faschisten ohne Eier in der Hose!‹, aber die meisten heulten vor Angst. Der gelbe Sand färbte sich rot. Zwei der Männer seien Homos, behauptete der Gouverneur. Wie der jämmerliche Dichter Lorca, der ebenfalls seine gerechte Strafe erhalten habe. Die beiden wurden in den Sand gelegtund in den Arsch geschossen. Es dauerte schrecklich lange, bis sie tatsächlich starben. Der Gouverneur war sehr stolz auf dieses Spektakel. Es finde jeden Tag um halb fünf statt, sagte er. Ich sei auch am nächsten Tag wieder herzlich willkommen. Aber das war nicht das Schlimmste. Weißt du, was das Schlimmste war?«
Magnus schüttelt den Kopf.
»Fuck, Mann. Dass der Gouverneur darauf bestand, mit mir darüber zu diskutieren, ob Mozart oder Beethoven der größte Komponist sei, den es je gegeben habe. Außerdem hat er eine ganze Reihe von Opern aufgezählt, zu denen er meine Meinung hören wollte. Und all das, während unten im Sand die Hinrichtungen stattfanden. Der Gouverneur beliebte, es folgendermaßen auszudrücken: ›Darum geht es in diesem Kampf – um die Rückkehr der Zivilisation in unser Vaterland.‹«
Mercer trinkt die Hälfte seines Cognacs und schüttelt den Kopf, als falle es ihm schwer, seine eigene Geschichte zu verstehen.
»Und hast du darüber berichtet?«
»Natürlich habe ich es getan. Mein Redakteur hat den Namen des Gouverneurs entfernt und mir die blutigsten Adjektive rausgestrichen, der Hund, aber die Schilderung war, glaube ich, trotzdem plastisch genug.«
»Dann hast du in Malaga also erreicht, was du wolltest.«
»Das war eigentlich nicht das, was ich wollte.«
»Okay, was weiß denn ich.«
Mercer sieht ihn an: »Du bist wirklich nicht übel, Magnus. Wir sind auf dem besten Wege, Freunde zu werden. Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages, aber jetzt ist es noch zu früh. Und vielleicht verrätst du mir eines Tages, was wirklich auf deiner Agenda steht. Aber noch ist es einfach zu früh, dass wir einander unsere Herzen öffnen, meinst du nicht? Trotzdem vielen Dank für die Einladungzum Essen. Es war einfach großartig«, sagt Joe und sieht Magnus mit seinen intensiven, geheimnisvollen Augen an.
Ein paar Tage später begleitet Magnus Joe Mercer zum Post- und Telegrafenamt. Das weißgelbe Gebäude ist erst 1922 errichtet worden, aber bereits von den Kämpfen gezeichnet, die hier am 18. Juli 1936 stattgefunden haben, als der Aufstand begann. Die Uhr in der Mitte des Turms auf dem Postamt ist stehen geblieben. Einer der Statuen auf dem Dach fehlt der Kopf.
Mercer und Meyer gehen an den Wachposten vorbei und treten in ein kühles Dunkel, in dem die Postbeamten hinter vergitterten Schaltern sitzen. Joe Mercer weiß, was er zu tun hat, und Magnus tut so, als wisse er es auch, während er in Wirklichkeit beobachtet, wie Mercer seinen Artikel an die Zeitung in Chicago telegrafiert.
An einem langen Tresen sitzen vier Männer und zwei Frauen. Vor zweien von ihnen steht auf einem handgeschriebenen Schild »Englisch«. Vor den beiden anderen Männern stehen die Schilder »Französisch« und »Russisch«. Auf den weißen Schildern vor den Frauen steht »Skandinavisch«. Italienisch und Deutsch braucht man hier nicht. Es ist unmöglich, von dieser Seite aus Berichte über den Krieg an die beiden Nationen zu schicken, in denen die Faschisten an der Macht sind.
Er betrachtet die skandinavischen Frauen, sie sind beide dunkelblond und tragen graue, unvorteilhafte Uniformen. Sie rauchen und sprechen Norwegisch, hört er, während er gleichzeitig versucht, Joe Mercers Diskussion mit einem der Zensoren mitzuverfolgen, der offensichtlich einen Abschnitt streichen will, in dem es um eine Festnahme geht, die Joe beobachtet hat: Eine Gruppe der Guardia Asaltos hatte drei Milizsoldaten festgenommen, die aus Barcelona nach Valencia gekommen
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