Die Wahrheit über Alice
Geheimnisse, so vieles, was ich nicht preisgeben möchte. Aber es ist ja
nur ein Spiel, nur ein bisschen Spaß. Und wenn ich Pflicht sage, wird Alice mir ganz bestimmt keine leichte Aufgabe stellen.
«Wahrheit», sage ich schließlich. «Immer noch besser, als mich von dir heute Abend splitternackt auf die Oxford Street schicken
zu lassen.»
«Wahrheit», sagt sie langsam. Sie zieht die Silben in die Länge, als koste sie den Klang des Wortes in vollen Zügen aus. «Bist
du sicher? Bist du sicher, dass du ganz ehrlich sein kannst?»
«Ich denke ja. Schieß los.»
«Okay.» Und dann sieht sie mich neugierig an. «Also. Warst du froh, tief in deinem Innersten? Warst du froh, sie losgeworden
zu sein? Deine perfekte Schwester? Warst du insgeheim froh, als sie getötet wurde?»
Und mit einem Mal ist mir, als würde alles in Zeitlupe auf mich zukommen, durch einen verschwommenen Nebel. Ich höre, wie
Robbie entrüstet seufzt und zu Alice sagt, sie solle mit der idiotischen Nummer aufhören. Ich spüre, wie Philippa mich |121| ansieht und sich fragt, was los ist, ob Alice das wirklich ernst gemeint haben kann. Dann spüre ich Philippas Hand auf meinem
Arm, die Besorgnis in ihrer Berührung.
Aber ich sehe nur Alice’ Augen. Sie sind kalt, taxierend, und ihre übergroßen schwarzen Pupillen saugen mich ein. Hart und
unerbittlich. Tief. Skrupellos. Schwarz.
|122| 15
I ch werde so früh wach, dass es draußen noch dunkel ist. Sarah ist aus ihrem Bett aufgestanden und in meins gekrochen, während
ich geschlafen habe, und ihr warmer, kleiner Körper ist eng an mich geschmiegt. Ihr Kopf liegt auf meinem Kissen, und ich
bin dicht an den Rand gerutscht, sodass die ganze andere Seite, über die Hälfte des Bettes, leer ist.
Ich gleite langsam und behutsam aus dem Bett, um sie nicht zu wecken, und angele mir meinen dicken Wollpullover vom Stuhl.
Es ist kalt, und ich gehe schnurstracks in den Wohnbereich und mache den Gasofen an. Er füllt den Raum mit einem behaglichen,
goldenen Licht, und es wird im Nu warm. Ich koche mir eine Kanne Tee und nehme sie mit zur Couch, wo ich mich in eine Ecke
setze, die Beine angezogen.
Das frühe Wachwerden hat angefangen, als Sarah ganz klein war, und seitdem kann ich nicht mehr lange schlafen. Manchmal nutze
ich die Zeit, in der Sarah noch schläft, zum Putzen, dafür, das Mittagessen vorzubereiten oder für Sarah Sachen zum Anziehen
herauszulegen, aber meistens sitze ich nur so da und trinke Tee. Ich genieße die Zeit, die ich für mich habe. Ich denke über
nichts Besonderes nach, es gelingt mir inzwischen sehr gut, das Denken abzuschalten. Ich vermeide es, unnütze Pläne für eine
ungewisse Zukunft zu schmieden, und vor allen Dingen vermeide ich es möglichst, mich an die Vergangenheit zu erinnern. Daher
verfalle ich in einen nahezu meditativen Zustand: der Verstand leer, die Gedanken allein auf den Geschmack meines |123| Tees konzentriert oder auf mein regelmäßiges Ein- und Ausatmen. Und oft, wenn Sarah gegen sieben Uhr wach wird und zu mir
kommt, zerknautscht und warm und nach Schlaf duftend, bin ich überrascht, wie schnell die zwei oder mehr Stunden vergangen
sind.
Aber heute Morgen nehme ich mir zum gemütlichen Teetrinken nur weniger als eine Stunde Zeit. Ich freue mich auf den Tag und
kann es kaum erwarten, dass Sarah den Schnee sieht, kann es kaum erwarten, ihr begeistertes Kreischen zu hören, wenn sie Schlitten
fährt oder wir einen Schneemann bauen. Ich möchte, dass sie aufwacht und diese Vorfreude mit mir teilt, daher stehe ich um
sechs von der Couch auf und bereite Sarahs Lieblingsfrühstück zu: French Toast mit Bananenscheiben und Ahornsirup und eine
große Tasse heißen Kakao dazu. Ich stelle unsere Teller und Tassen auf den Tisch und gehe Sarah wecken.
«Fahren wir heute in den Schnee, Mummy?», fragt Sarah, sobald sie die Augen aufschlägt. Sie setzt sich auf und ist gleich
hellwach. «Müssen wir los?»
«Noch nicht.» Ich setze mich aufs Bett und umarme sie. «Aber ich habe French Toast gemacht, einen ganzen Berg, und heißen
Kakao. Ich hoffe, du hast großen Hunger.»
«Oh, lecker.» Sie schiebt sich die Bettdecke von den Beinen, steht auf, läuft aus dem Zimmer und lässt mich zurück, allein
auf dem Bett. Ich muss lächeln.
Ich folge ihr ins Esszimmer, wo sie auf ihrem Stuhl kniet und mit Appetit isst.
«Isst du auch welche, Mummy?», sagt sie mit vollem Mund. «Es ist genug da für dich.»
«Das kann
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