Die Wahrheit über Alice
man wohl sagen.» Ich setze mich ihr gegenüber, nehme einen French Toast von dem Tablett zwischen uns und lege ihn
auf meinen Teller. «Ich glaube, das würde sogar für zehn reichen.»
|124| «Das glaube ich nicht», sagt Sarah und schüttelt den Kopf. Dabei sieht sie mich ernst an. «Ich hab ganz viel Hunger. Ich brauche
heute zehn für mich allein. French Toast mag ich am allerallerliebsten.»
Sie schafft es tatsächlich, eine erstaunliche Menge zu essen und zwischendurch ihren heißen Kakao zu trinken. Sobald sie fertig
ist, klettert sie vom Stuhl.
«Ich geh mich jetzt anziehen», sagt sie. «Ich glaube, wir werden einen ganz großen Tag haben.»
Ich muss darüber lachen, dass sie sich eine meiner Redensarten angeeignet hat. Sie klingt manchmal so erwachsen. «Und ob.
Einen ganz großen Tag. Aber wir haben noch reichlich Zeit. Die Sonne geht gerade erst auf.»
«Ich will als Erste fertig sein», sagt sie. «Ich will vor der Sonne fertig sein.»
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U nd ich höre es wieder. Das Klopfen, nicht laut, aber beharrlich. Wer auch immer das ist, er klopft seit über zehn Minuten,
und ich bin es leid, es länger zu ignorieren. Ich bin es leid, so zu tun, als wäre ich nicht da.
Ich gehe zur Tür, mache aber nicht auf.
«Verschwinde», sage ich. «Es ist mitten in der Nacht. Verschwinde.»
«Katherine. Ich bin’s, Robbie.» Und seine Stimme ist so vertraut und tröstlich und so voller Wärme, dass mir fast wieder die
Tränen kommen. «Und Philippa ist auch hier. Bitte lass uns rein.»
«Ist Alice bei euch?»
«Nein.»
Ich seufze und öffne die Tür einen Spalt. Dann drehe ich mich um und gehe die Diele hinunter, ohne Hallo zu sagen. Ich überlasse
es ihnen, die Tür aufzuschieben. Ich weiß, dass sie es gut meinen, dass sie besorgt um mich sind, aber die Ereignisse des
Abends und das Weinen haben mich erschöpft, und ich will in Ruhe gelassen werden. Nicht um zu schlafen – schlafen kann ich
nicht –, sondern um mich allein in meinem Elend zu suhlen.
Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa, wo ich die ganze letzte Stunde gekauert habe.
Philippa und Robbie folgen mir und nehmen auf dem Sofa gegenüber Platz.
|126| «Alice hat es uns erzählt», sagt Robbie sanft. «Das mit deiner Schwester.»
Ich nicke. Wenn ich etwas sage, fange ich nur wieder an zu weinen, also schweige ich weiter.
«Soll ich vielleicht lieber wieder gehen?» Philippa schaut Robbie und dann mich an. «Ich wollte nur sehen, ob du klarkommst,
und mich vergewissern, dass Robbie bei dir ist. Aber ich will nicht aufdringlich sein.»
Ich blicke Philippa an und zucke die Achseln. Sie sieht schauderhaft aus. Ihre Haut ist blass, und sie hat tiefe Ringe unter
den Augen, als stände sie nach den Ereignissen des Abends selbst unter Schock.
«Dann bleibe ich lieber, wenn du nichts dagegen hast», seufzt sie. «Ich bin echt zu müde, um jetzt noch irgendwohin zu gehen.»
Es ist mir egal, ob sie da ist oder nicht, aber ich bin auf einmal heilfroh, dass Vivien übers Wochenende weggefahren ist
und das alles hier nicht mitbekommt.
«Soll ich Tee machen?», fragt Philippa unvermittelt und sieht froh aus, dass ihr so etwas Praktisches eingefallen ist.
«Ich hätte gern einen.» Robbie lächelt Philippa dankbar an. «Katherine?»
«Ja», sage ich. «Aber ich –»
«Sie mag keine Teebeutel», erklärt Robbie. «Kanne und Tee findest du auf dem Regal über dem Kessel.»
«Geht’s einigermaßen?» Robbie legt mir eine Hand aufs Knie, als Philippa aus dem Zimmer ist.
Ich nicke und ringe mir ein Lächeln ab. «Was für ein Scheißabend. Ich hätte auf dich hören sollen. Ich hätte früher nach Hause
gehen sollen, wie du gesagt hast.» Ich beuge mich vor und flüstere: «Philippa hält Alice für ein absolutes Miststück. Sie
glaubt, sie hat psychische Probleme. Hat sie dir das erzählt?»
|127| «Ich kann’s ihr nicht verdenken.» Robbie zuckt die Achseln. «Sie hat sich heute Abend wirklich wie ein Miststück benommen.
Und vielleicht stimmt ja wirklich was nicht mit ihr. Wer weiß? Aber was ändert das? Solche Sachen lassen sich nicht beheben.
Vielleicht ist Alice ja einfach ein fieser Charakter.»
Er lehnt sich zurück und seufzt, blickt auf seine Knie und zupft an einem losen Faden seiner Jeans. Er sieht müde aus, erledigt
und tief-, tieftraurig.
«Und du, Robbie? Wie geht’s dir?», frage ich. «Du siehst nicht besonders gut aus.»
«Mir geht’s auch nicht gut.» Seine Augen, die
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