Die Wahrheit über Alice
ihre Wohnung. Wahrscheinlich hat sie uns langsam satt.»
«Nein, das klingt nicht schlecht.» Ich zucke die Achseln. «Ich hab tatsächlich schon wieder Hunger, nicht zu fassen. Und vor
dem Fernseher abzuhängen und einen Film zu gucken, klingt gut.»
Wir suchen uns auf der Speisekarte von einer Pizzeria in der Nähe etwas aus. Sowohl Philippa als auch ich bieten Alice an,
mitzukommen, ihr beim Tragen zu helfen, etwas Geld beizusteuern, doch sie lehnt kategorisch ab und besteht darauf, alles selbst
zu bezahlen. Dann macht sie sich allein auf den Weg.
Sobald sie weg ist, gehen Philippa und ich in die Küche, um zu spülen.
«Sie ist nicht so verrückt, wie du dachtest, nicht?», sage ich.
Philippa hat die Hände im Spülwasser und hält den Blick nach unten gerichtet. Dann sagt sie: «Sie kann sehr nett sein. Sehr
sympathisch.»
«Ja.» Ich stupse sie leicht mit dem Ellbogen. «Aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Es ging um das Wort verrückt.»
Ich komme mir ein bisschen treulos vor, weil ich mit jemandem, den ich gerade erst kennengelernt habe, über Alice spreche,
die ich doch für meine beste Freundin halte. Aber Philippa ist so bodenständig und ehrlich, und ich würde wirklich gern hören,
was sie denkt. Ich mag sie. Sie ist offensichtlich sehr intelligent, aber sie ist auch warmherzig und freundlich und faszinierend |133| unkonventionell, und ich hoffe sehr, dass wir Freundinnen werden. Schon jetzt halte ich viel von ihrem Urteilsvermögen und
schätze ihre Meinung.
Philippa seufzt, nimmt die Hände aus dem Wasser und wischt sie an ihrer Jeans ab. Sie sieht mich an und zuckt die Achseln.
«Ich denke nach wie vor, dass sie ein wenig verrückt ist. Sie neigt zu Extremen. Mein Dad würde sagen, sie ist sehr anstrengend.»
«Aber das ist die Perspektive von Eltern.» Ich lache leicht, um die Wirkung dessen abzufedern, was ich sagen will. «Und es
klingt ein bisschen kalt, nicht? Ein bisschen … na ja, sie ist ein Mensch. Sie verhält sich nicht immer so wie gestern. So hab ich sie vorher noch nie erlebt. Und sie ist
meine Freundin. In vielerlei Hinsicht ist sie sogar eine phantastische Freundin. Ehrlich, du hast noch nicht erlebt, wie großzügig
und nett sie sein kann. Also, soll ich sie wirklich einfach abservieren? Sie abservieren und machen, dass ich wegkomme, nur
weil es anstrengend ist, so eine Freundin zu haben? Ich finde, das wäre doch ein bisschen … na ja, oberflächlich, einen Menschen so zu behandeln.»
«Oh.» Philippa lächelt mich an. Sie wirkt überrascht und traurig zugleich. «Du hast wahrscheinlich recht. Aber das ist eine
sehr nette Art, die Dinge zu sehen. Ich bin eindeutig nicht so nett wie du, weil ich sie wahrscheinlich abservieren würde.
Ich würde machen, dass ich wegkomme, möglichst schnell und so weit ich kann.»
Ihr bohrender Blick macht mich leicht verlegen, und um mir nichts anmerken zu lassen, räume ich Teller und Tassen weg. «Weißt
du, ich kenne einfach dieses Gefühl, dass … dass andere nicht mit mir zusammen sein wollen, weil es zu schwer für sie ist. Nach Rachels Ermordung habe ich das oft so
empfunden. Auch bei meinen engsten Freunden. Sie waren alle besorgt und nett, |134| und sie haben sich echt Mühe gegeben … aber in Wirklichkeit waren alle anderen in Feierlaune. Die zehnte Klasse war zu Ende, und es gab Abschlussbälle und Partys
und so. Sie wollten einfach Spaß haben. Keiner hatte Lust, mit mir in meinem Zimmer zu hocken und zu weinen. Keiner wollte
mich auf seiner Party haben, weil sich dann alle verpflichtet gefühlt hätten, auf mich einzugehen, sich um mich zu kümmern,
mich irgendwie aufzuheitern. Ich wäre für sie nur ein Klotz am Bein gewesen. Und ich konnte es ihnen nicht mal übelnehmen.
Ich wusste, dass ich eine Spaßbremse war. Ich wusste, dass keiner an Tod und Mord und Tragik denken wollte … aber ich musste es trotzdem tun. Es war mein Leben.» Ich zucke die Achseln und bin überrascht von meinen eigenen Worten.
Ich habe vorher eigentlich nie so genau darüber nachgedacht, diese Gedanken kommen mir mehr oder weniger beim Sprechen. Aber
sie fühlen sich echt an. Sie fühlen sich richtig an. «Ich glaube einfach, wahre Freunde müssen einander so nehmen, wie sie
sind. In fröhlichen und in langweiligen Zeiten. In guten und in schlechten.»
«Ich verstehe, was du meinst. Ehrlich.» Philippa zieht den Stöpsel raus und wischt die Spüle ringsherum sauber. «Aber ich
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