Die Wahrheit über Alice
dass sie
mich los sind, zumal ich doch so ein schlechter Mensch bin, wie du anscheinend glaubst.»
«Egal, wie es mit Robbie und seinem Vater weitergeht, es ändert nichts an dem, was du getan hast. Das war einfach falsch,
Alice, und es war richtig böse. Und wieso hast du Greg eigentlich erzählt, dass du Rachel heißt? Wieso dieser Name? Es fällt
mir schwer, da bloß an einen Zufall zu glauben.»
«Mir passt dein Standpaukenton nicht. Du bist nicht meine Mutter, du bist nicht besser als ich, ich brauche deine Billigung
nicht.» Ihre Stimme ist plötzlich ganz tief und kalt und ernst, ein deutlicher Gegensatz zu dem trägen, gleichgültigen Ton,
den sie noch Augenblicke zuvor angeschlagen hat. «Ich möchte wirklich nicht mehr über die Sache reden, Katherine. Ich find’s
allmählich langweilig, total langweilig. Willst du Freitagabend weggehen oder nicht? Sag mir Bescheid. Ich reserviere einen
Tisch im Giovanni’s.»
«Nein», sage ich, und obwohl ich empört und fassungslos bin über ihre fehlende Reue und ihre Kaltschnäuzigkeit, klingt meine
Stimme überraschend normal. «Nein danke.»
«Wie wär’s dann mit Samstagabend?»
«Nein. Ja. Ich meine, nein, Alice, ich will keine Zeit mehr mit dir verbringen. Ich bin wütend. Ich bin schockiert. Begreifst
du nicht, wie ernst die Sache ist? Ich bin echt aufgebracht, richtig angewidert. Bitte hör auf mich zu fragen, ob ich mit
dir weggehen will.»
«Angewidert? Du bist angewidert?»
|228| «Ja, allerdings. Ich bin angewidert und ich schäme mich.»
«Oh.» Sie lacht. «Schämen tust du dich auch? Schämst du dich etwa für mich?»
«Wegen dir. Ja.» Meine Stimme ist schwach.
«Meinst du nicht, du hättest schon genug Gründe, dich zu schämen, Katherine? Auch ohne mich?»
Und ich weiß genau, was sie sagen wird, noch bevor sie es wirklich tut. Aber ich lege nicht auf, ich halte das Handy fest
ans Ohr gepresst und lausche. Ich kann nicht anders, als es mir anzuhören.
«Mag sein, dass ich schon ein paar schlimme Sachen gemacht habe, aber wenigstens hab ich nicht tatenlos zugesehen, wie meine
Schwester vergewaltigt wurde. Oder? Wenigstens bin ich nicht die feige Memme, die weggelaufen ist und zugelassen hat, dass
ihre kleine Schwester ermordet wird.»
|229| 30
A m Abend bestellen Mick und Philippa und ich uns Pizza. Als wir uns zum Essen an den Tisch setzen, fragt Philippa, ob ich
Alice in letzter Zeit gesehen hätte.
«Nein. Aber ich hab heute mit ihr telefoniert.»
«Und?»
Und so erzähle ich ihnen beim Essen, was sie sich mit Robbie und Greg geleistet hat, und von meinem Telefonat mit ihr am Nachmittag.
«Das gibt’s doch nicht.» Mick legt sein Stück Pizza hin und wischt sich die Hände an seiner Jeans ab. «Das ist perfide. Unglaublich.
Was für ein Mensch macht denn so was?»
«Ein kranker», sagt Philippa. «Ein sehr gestörter, sehr unglücklicher Mensch.»
«Und was ist mit diesem Robbie? Wieso war er mit ihr zusammen? Ist der auch verrückt?»
«Absolut nicht», sagt Philippa.
«Robbie ist total nett», sage ich. «Einer der liebenswertesten Menschen, die man sich vorstellen kann. Ein feiner Kerl. Ein
toller Freund.»
«Wieso ist er dann –»
«Weil er verliebt in sie war», unterbreche ich ihn. «Um zu begreifen, wie charmant sie sein kann, müsstest du sie kennen.»
Ich spreche mit Nachdruck, damit Mick es versteht, damit er mich nicht für idiotisch hält oder hart über Robbie urteilt. «Ich
war ehrlich froh, als sie sich mit mir anfreundete. Ich fühlte mich |230| geschmeichelt, denn sie ist total unterhaltsam, und es macht einfach Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Sie könnte sich mit jedem
anfreunden. Und nach Rachels Tod war ich viel zu lange immer nur allein. Ich war einfach einsam, glaube ich. Alice war wie
ein frischer Wind in meinem Leben. Sie war witzig und spritzig. Es war toll, etwas mit ihr zu unternehmen.»
Mick und Philippa schauen mich beide mitfühlend an, und ich merke viel zu spät, dass ich vom Kurs abgekommen bin. Ich habe
angefangen, nicht Robbies, sondern meine Freundschaft zu Alice zu rechtfertigen. Aber im Grunde läuft es auf ein und dasselbe
hinaus. Ich, Robbie – wir waren beide verhext.
«Wieso hast du mir nichts davon erzählt?» Mick sieht gekränkt aus. «Als du das alles rausgefunden hast? Wieso hast du nichts
gesagt?»
«Ich weiß nicht.» Ich zucke die Achseln. «Ich wollte einfach nicht darüber nachdenken. Wir sind so glücklich. Ich
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