Die Wahrheit über Marie - Roman
waren. Marie, mir gegenüber im Halbdunkel, herzergreifend, mit feuchten Augen, Marie, hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen, zwischen Leidenschaft und Zurückhaltung, Marie, die gleichzeitig und im gleichen Maße das Bedürfnis verspürte, sich meiner Umarmung hinzugeben und sich mir zu entziehen, Marie, die das Bedürfnis verspürte, sich mit all ihrer Kraft an meinen Körper zu pressen, um daraus Trost zu schöpfen, und die nicht versucht hatte, ihr körperliches Verlangen zu unterdrücken, das sie in sich hatte aufsteigen spüren in dem Augenblick, als ich sie in meine Arme genommen hatte, Marie, die mich mit ihrem herausfordernden Blick wie magnetisch angezogen hatte, damit ich zärtlich zu ihr war, um sich gleichzeitig aus meiner Umarmung zu befreien, sich schamhaft aus ihr zu lösen, als wäre ihr klar geworden, dass es ganz einfach unmöglich war, sich jetzt zu lieben.
Es war mir nicht gleich zu Bewusstsein gekommen, nicht sofort, auch nicht in den Minuten, die folgen sollten, sondern erst viel später, es kam unversehens wie ein Blitz, verbunden mit einem Gefühl von Panik und Schwindel – trotz der Schwierigkeit, um nicht zu sagen der Unmöglichkeit, das, was das Leben selbst gewesen war, in Worte zu fassen, zu formulieren, was mir im Verlauf des Lebens in einer natürlichen Aneinanderreihung unvermeidbarer und stiller Ereignisse widerfahren war, das aber, sobald es in Sprache gefasst werden sollte, plötzlich unverständlich wurde oder beschämend, wie zum Beispiel bestimmte Mordfälle, die vor Gericht zur Sprache kommen, im Augenblick des Tatgeschehens offenbar eine tatsächliche Plausibilität haben, dann aber, mit dem zeitlichen Abstand und ins unerbittliche Licht der Worte gerückt, buchstäblich absurd, unsagbar und abstrakt werden –, als mir blitzartig bewusst wurde, dass ich zum zweiten Mal in dieser Nacht meinen Finger in den Körper einer Frau gesteckt hatte.
Als ich wieder in mein kleines Zweizimmerappartement in der Rue des Filles-Saint-Thomas zurückkam, fand ich die Wohnung verlassen vor, Marie war nicht mehr da. Das Bett war leer, die Laken zerwühlt, gräuliches Licht drang durch das halb geöffnete Fenster, die Bettdecke lag zerknittert und zu einer Kugel zusammengeknüllt auf dem Boden. Als ich hinging, um sie aufzuheben, entdeckte ich in einer Mulde des Bettes auf dem Laken, mit dem die Matratze überzogen war, zwei oder drei Tropfen getrocknetes Blut. Keine runden roten regelmäßigen Flecken, eher zwei parallele Schlieren, eine größere und eine kleinere (die kleinere ein geschrumpftes Zwillingsecho der größeren), die sich durch einen Kontakt oder eine Reibung über eine Länge von zwei oder drei Zentimetern hinzogen, die Spuren kaum mehr zu sehen, die Konturen verblichen und undeutlich, versteinerte Schlieren, zwei bräunlich-bleiche Abgüsse kleiner, langgezogener Cephalopoden oder gepanzerter Krebstiere.
Marie, die andere Marie, hatte mir in dieser Nacht gesagt, ich hatte verstanden, sie hatte es mir zu verstehen gegeben, als wir vom Restaurant in das kleine Zweizimmerappartement in der Rue des Filles-Saint-Thomas zurückkamen, sie hatte es nicht ausdrücklich gesagt, dann aber die ganze Nacht ihren Slip anbehalten, und ich hatte auch keinen Versuch unternommen, ihn ihr auszuziehen, ich hatte verstanden, ohne dass sie mir etwas hätte sagen müssen, nach unserer Rückkehr hatten wir uns umarmt und auf dem Bett geküsst, uns war zu heiß, wir schwitzten auf dem zu schmalen Bett, waren beide schweißbedeckt, der feuchte Rücken klebte am Laken, ich hatte sie in der schwülen Dunkelheit der Nacht gestreichelt, in dem Zimmer, in das kein Lüftchen drang, ich knetete vorsichtig den dünnen blassblauen Seidenstoff ihres Slips, der sich unter meinen zärtlichen Bewegungen dehnte und verformte, der Regen fiel mit Wucht durch das offene Fenster, wir umarmten uns halbnackt auf dem zu schmalen Bett, ich hörte mit geschlossenen Augen das Donnergrollen des Gewitters, als wäre es auf Elba, ich wusste nicht mehr, wo ich war, ich wusste nicht mehr, mit wem ich war, deutete mit der einen die Handgriffe an, die ich mit der anderen vollendet hätte, verloren, wie ich war im beschränkten Register der Gesten der Liebe – Austausch von Zärtlichkeiten, Nacktheit, Dunkelheit, Feuchtigkeit, Sanftheit –, und erst später bemerkte ich, dass auf meiner Fingerspitze etwas Menstruationsblut war.
Und von diesen paar Tropfen Blut auf meinem Finger ausgehend, ließ ich in Gedanken
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