Die Wahrheit über Marie - Roman
Aufregung wegen Marie, schon seit ich neben sie ans Fenster getreten war, hatte ich dasselbe Verlangen, sie zu berühren und zu umarmen, war aber unfähig gewesen, sie so einfach in meine Arme zu nehmen und sie zu trösten, ihren Körper eng an den meinen gedrückt. Wir waren im Flur stehen geblieben, das Möbel hatten wir zu unseren Füßen abgestellt und schauten uns im Dämmerlicht an, wir sagten nichts, aber wir verstanden uns, wir hatten uns verstanden. Ich liebte sie, ja. Es ist vielleicht sehr unpräzise zu sagen, dass ich sie liebte, aber nichts anderes könnte präziser sein.
Ich weiß nicht, war ich es, der behutsam um das Möbel herum den letzten Meter, der mich von ihr trennte, zurückzulegen begann, oder sie, die, indem sie einen Schritt zur Seite machte, mich stillschweigend einlud, zu ihr herüberzukommen, wir standen uns jetzt reglos im halbdunklen Flur gegenüber und blickten uns schweigend an, mit einer unendlichen Bedeutungsschwere im Blick. Ich glaubte, dass wir uns küssen würden, aber wir haben uns nicht geküsst, weder haben sich unsere Zungen getroffen noch unsere Lippen sich berührt, wir haben uns nur leicht gestreift in der Dunkelheit, haben sachte unsere Wangen aneinandergerieben, haben uns am Hals gestreichelt, scheu und ergriffen wie aufgeschreckte Pferde. Wir wagten es nicht, uns zu berühren, bis in die Fingerspitzen waren wir voller Rücksichtnahme und Zurückhaltung, voller Sanftmut und Feingefühl, als wären wir zu zerbrechlich oder die Oberfläche unserer Körper glühend heiß oder der Kontakt mit dem anderen verboten, gefährlich, deplatziert, undenkbar, ein Tabu, wir strichen nur sachte mit den Fingern über unsere Schultern, unsere Augen irrten umher, unsere Sinne waren zum Zerreißen gespannt, ich stand ganz nah bei ihr und atmete den Geruch ihres Nackens. Dann, wie zu lange gestautes Wasser sich endlich seine Bahn bricht, haben wir uns plötzlich heftig umarmt und uns dem Wiedersehen unserer Körper hingegeben, uns hemmungslos umschlungen in einer völligen Hingabe von Herz und Seele, wir pressten unsere brüchigen Körper aneinander, um aus dem anderen Wärme zu schöpfen, um Halt und Trost zu finden, unsere übereifrigen Arme waren plötzlich überall, ungenaue, sanfte Hände, die fiebrig den anderen ertasteten, ich streichelte ihre Schultern, berührte die Wangen, die Stirn, die Schläfen. Ich führte meine Hand über ihr Gesicht und sah sie an. Die Hand und der Blick, nur darum geht es im Leben, in der Liebe, in der Kunst.
Wir hatten die Augen geschlossen und hielten uns umschlungen, pressten uns verzweifelt aneinander, aber wir küssten uns nicht, wir konnten uns nicht küssen, ein Verbot hinderte uns daran, eine unausgesprochene, herrische, unsichtbare Vorschrift, zu viele Dinge ereigneten sich zur gleichen Zeit, es gab zu viel Gefühle, zu viel Schmerz, Unruhe und Liebe, zu viel, was sich in unseren Herzen bewegte, wir brauchten eine Pause, eine Unterbrechung, um wieder zu Atem zu kommen, sie strich sich eine Haarsträhne zurecht, und dann sah ich in ihren Augen Wildheit und Geilheit aufscheinen. Marie stand vor mir mit nackten Schenkeln unter ihrem weißen T-Shirt, leicht nach vorne gebeugt mit dem Rücken zur Wand, und schaute mich herausfordernd an – es lag etwas Herausforderndes in ihrem Blick, etwas Rebellisches und Hilfloses, etwas Sexuelles und Wildes. Sie ließ sich erneut gegen die Wand fallen, erwartete meinen Körper, und ich fasste sie an, meine Finger ertasteten, gedämpft, abgeschwächt durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts, ihre Schamhaare. Sie war nackt unter ihrem T-Shirt, ich hatte meine Hand unter das Kleidungsstück geschoben, und meine Finger spürten, wie die Haut ihrer Bauchdecke unter der Berührung zu zittern begann, wir verschmolzen miteinander, waren uns selbst nicht mehr bewusst, ich hörte ihren Atem stöhnend vor Verlangen an meinem Hals, ihre Schenkel waren heiß, ich streichelte ihren Bauch, ließ vorsichtig einen Finger in ihr Geschlecht gleiten, und ein heißer, feuchter, süßer Schauder durchfuhr meinen Körper.
Alles hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert, Marie hatte sich mir mit Anmut entwunden, sich aus der Umarmung befreit und schaute mich im Halbdunkel zärtlich an. Tränen waren geflossen, während ich sie umarmt hatte, sie hatte sie nicht zurückgehalten, sie nicht weggewischt, stille Tränen, unsichtbar gewissermaßen, die mit der Natürlichkeit eines Herzschlags oder eines Atemzugs über ihre Wangen geronnen
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