Die Wahrheit über Marie - Roman
diesem umfassenden Lauf der Zeit in sich.
Lange Zeit bin ich der Meinung gewesen, dass ich Jean-Christophe de G. außer in der Nacht seines Todes nie gesehen hatte. In dieser Nacht war er mir gerade einmal für ein paar Sekunden erschienen. Beim Abtransport vor der Toreinfahrt des Gebäudes in der Rue de La Vrillière war er mir, auf der Trage liegend, wie eine Gestalt aus einem Traum oder Alptraum erschienen, ein Schreckgespenst, spontan aus dem Nichts entstanden, als hätte er dieses Nichts nur für einen kurzen Moment verlassen, um gleich darauf für immer wieder darin zu verschwinden, ein auf Anhieb komplettes Bild, das sich lückenlos, in sich stimmig und in allen Einzelheiten plötzlich vor mir materialisiert hatte, nichts war ihm vorausgegangen, nichts folgte ihm, gleichsam ex nihilo erschaffen aus der Substanz der Nacht – die jähe Erscheinung vor meinen Augen, dieser leblos auf einer Trage liegende Mann, dessen erschreckend weißes Gesicht unter einer Sauerstoffmaske verborgen war, der schon fast nichts Menschliches mehr hatte, vollständig auf seine Socken reduziert zu sein schien, die sein Wappen geworden waren und seine Farben, schwarze, feingesponnene Socken aus bester Seide, noch heute sehe ich vor meinen Augen ihre Textur und ihren Glanz, das blass schimmernde Schwarz! In diesem Moment glaubte ich, es sei das erste Mal gewesen, dass ich ihn sah, aber ich hatte ihn schon einige Monate zuvor in Tokio gesehen. Es war ganz ohne Zweifel an jenem Tag in Tokio, an dem ich Jean-Christophe de G. das erste Mal gesehen hatte, völlig unerwartet war er dort an der Seite von Marie aufgetaucht, zwar nicht Hand in Hand, aber es war nicht zu übersehen, dass sie ein Paar waren, das war mir sofort ins Auge gesprungen, ein Mann, älter als sie, die Vierzig schon verweht, eher an die Fünfzig, gutes Aussehen, viel Klasse, elegant, gekleidet mit einem langen schwarzen Kaschmirmantel und einem dunklen Schal, er hatte etwas schütteres, nach hinten gekämmtes Haar. Das ist das einzige Bild, das mir von ihm geblieben ist, sein Gesicht aber fehlt und wird wohl jetzt für immer fehlen, denn danach habe ich nie mehr ein Foto von ihm gesehen.
In den auf den Tod von Jean-Christophe de G. folgenden Tagen suchte ich im Internet nach seinem Namen und war überrascht, auf viele ihn betreffende Verweise zu stoßen, auf ihn persönlich, auf seine Vorfahren und seine Familie. Ich konnte diese Hinweise mit den wenigen Informationen abgleichen, die Marie mir über ihn gegeben hatte, spärliche Mitteilungen, die sie mir über ihre Beziehung anvertraute. Noch in der Nacht seines Todes vertraute sie mir an, dass sie ihn in Tokio bei der Vernissage ihrer Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa kennengelernt hatte. Aus verschiedenen Gründen, die man unschwer nachvollziehen kann, vermied Marie es, mir mehr über Jean-Christophe de G. zu erzählen, zu sehr stand sie noch unter dem Schock, nur widerstrebend beantwortete sie mir Fragen zu seiner Person, aber ein paar vertrauliche Details waren ihr dann doch unbeabsichtigt herausgerutscht, als wir am Anfang des Sommers vor ihrer Abreise nach Elba einmal gemeinsam zu Abend aßen, intimere Bekenntnisse, die sie später bereute, mir gegenüber gemacht zu haben, Indiskretionen über diese Beziehung, Details, deren ich mich sofort bemächtigte, um sie in meiner Phantasie fortzuspinnen. Marie berichtete mir auch einiges über jene Affäre, die die letzten Monate im Leben von Jean-Christophe de G. überschattet hatte. In meiner Phantasie fügte ich hinzu, was fehlte, und versuchte, die im Schattenbereich liegenden unklaren Einzelheiten über seine Geschäfte ans Licht zu bringen, wobei ich durchaus nicht auf den Klatsch und die Gerüchte aus den zwielichtigsten Quellen verzichtete, die, ohne Beweis und zusätzliche Überprüfung, in sichtlich böswilliger Absicht in der Presse gegen ihn lanciert worden waren – denn bis zu jenem Tag gab es keinen einzigen Beweis, dass sich Jean-Christophe de G. jemals gegen das Gesetz vergangen hätte.
So konnte es geschehen, dass ich ausgehend von einem einfachen Detail, das mir Marie anvertraut hatte, das ihr wie nebenher herausgerutscht war oder das ich ihr entlockt hatte, meinen Gedanken freien Lauf ließ und ein Gerüst um das Ganze baute, wobei ich gelegentlich die Tatsachen manipulierte und übertrieb, um nicht zu sagen dramatisierte. Ich konnte falsch liegen, was die Absichten Jean-Christophe de G.s betraf, ich konnte seine Aufrichtigkeit
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