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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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den roten Faden abspulen und machte mir klar, welchen unsinnigen Kreislauf dieses Blut in dieser Nacht zurückgelegt hatte, einen Kreislauf, der bei Marie begann und mich zu Marie führte. Dieses Blut, das sehr schnell keine Farbe, keine Konsistenz, keinerlei Viskosität mehr gehabt haben dürfte, nicht einmal mehr stoffliche Realität, weil in der Zwischenzeit die verschiedensten Berührungen stattgefunden hatten, mit Stoffen und meiner Haut, mit der umgebenden Luft, mit dem Laken und meinen Kleidern, jede zusätzliche Berührung musste sie etwas mehr abschwächen, verblassen, verschwimmen lassen, und der Regen hatte ein Übriges getan, um diese wenigen Blutpartikel vollständig aufzulösen, die auch dann, wenn sie materiell nicht mehr existierten, eine unauslöschliche symbolische Existenz behielten, in Gedanken konnte ich ihren Weg nachvollziehen, ausgehend vom Körper Maries, dem sie entstammten, folgte ich in Gedanken der Spur zu all den Orten, an denen ich mich nacheinander in dieser Nacht aufgehalten hatte, denn ich hatte sie überall dorthin getragen, wo ich gewesen war, vom Schlafzimmer des kleinen Zweizimmerappartements in der Rue des Filles-Saint-Thomas ins Treppenhaus des Gebäudes, die Treppen hinunter auf die Straße hinaus, quer durch Paris in die Rue Vivienne, in die Rue Croix-des-Petits-Champs, durch Sturm und Regen, als hätten die Elemente Feuer und Wasser diesen verrückten Wettlauf der unsichtbaren Blutpartikel begleitet, die ich an meiner Fingerspitze mit mir trug, in der Nacht, als ich zu Marie gegangen bin.
    Ich betrachtete die paar getrockneten Blutflecken auf meinem Bett, und obwohl ich sehr wohl wusste, worum es sich handelte, brachte ich sie in einer Art Schwindel und grenzenloser Verwirrung meiner Gedanken mit Jean-Christophe de G. in Verbindung, als wäre dieses Blut sein Blut, als wären in meinem Bett ein paar Blutstropfen von Jean-Christophe de G., Blut, das Jean-Christophe de G. in dieser Nacht in der Wohnung Maries vergossen hatte, Blut, das ihm gehörte, Blut eines Mannes – Blut, das von einem gewaltvollen, tödlichen Drama stammte –, und nicht das, was es war, Blut einer Frau, zartes, weibliches, lebensspendendes Blut, sondern Blut eines Unglücks, und in einem plötzlichen irrationalen Anfall von Schrecken – oder von Hellsichtigkeit – begriff ich, dass ich, falls Jean-Christophe de G. in dieser Nacht sterben sollte, über dieses Blut auf meinem Laken Rechenschaft ablegen und erklären müsste, auf welche Weise dieses menschliche Blut in mein Bett gekommen war, dieses schwindelerregende, tote und gleichzeitig lebendige Blut – dieses beschämende Blut – in der Nacht des Todes von Jean-Christophe de G. eine Verbindung von Marie zu Marie hatte stiften lassen.
    Marie rief mich um die Mittagszeit an, um mir seinen Tod mitzuteilen. Jean-Baptiste ist gestorben, sagte sie mir (und ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich hatte immer geglaubt, sein Name sei Jean-Christophe).

#
    II
    In Wahrheit hieß Jean-Christophe de G. Jean-Baptiste de Ganay – ich erfuhr es einige Tage später, als ich zufällig auf die Todesnachricht stieß, die seine Familie in Le Monde veröffentlicht hatte. Der Nachruf war kurz und schmucklos. Einige wenige Zeilen in kleinem Schriftgrad, keine Einzelheiten zu den Umständen seines Todes. Die Namen der engsten Angehörigen. Seine Frau Delphine. Sein Sohn Olivier. Seine Mutter Gisèle. Nichts weiter, eine Bekanntmachung anstelle einer Todesanzeige. Ich sann einige Augenblicke über sein Geburtsdatum nach, 1960, ein Datum, das mir plötzlich wie in weite Ferne gerückt erschien, versunken in tiefster Vergangenheit, in einem weit zurückliegenden, nebelhaften und zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert, eine so ganz andere Zeit für die künftigen Generationen, mehr noch als für uns das 19. Jahrhundert, wegen dieser beiden albernen Zahlen am Beginn des Datums, diese merkwürdig angestaubten 1 und 9, die an jene ebenso unwirklichen Turbigo und Alma erinnerten, mit denen einst die Pariser Telefonnummern begannen. Und doch war ein Mann unserer Zeit gestorben, ein Zeitgenosse in der Blüte seiner Jahre, sein Geburtsjahr schien mir aber schon seltsam aus der Mode gekommen, als sei es zu Lebzeiten abgelaufen, ein schlecht gealtertes Datum, das bald nicht mehr gültig gewesen wäre und das das Leben schnell mit seiner Patina überziehen würde, denn wie ein schleichendes Gift barg es schon den Keim des eigenen Verschwindens und der endgültigen Auslöschung in

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