Die Wahrheit über Marie - Roman
erst in diesem Augenblick klar – waren die Personen, mit denen er seit der Wegfahrt vom Hotel so unablässig am Telefon sprach, keine anderen als die vier Japaner, die nur ein paar Meter vor ihnen in dem Minibus saßen. Auf diese Weise hielt er ohne Unterbrechung die Unterhaltung mit ihnen aufrecht, nicht mit einem Bestimmten von ihnen, der der Sprecher der Japaner hätte sein können, sondern abwechselnd mit allen vieren, je nachdem, um welche Frage es ging und welcher Spezialist gefragt war, ihre Telefone mussten im engen Minibus dauernd klingeln oder vibrieren und sie zwingen, der Reihe nach seine Anrufe entgegenzunehmen und sich zu bemühen, Jean-Christophe de G. zu beruhigen, mit immer denselben Argumenten seine Befürchtungen zu zerstreuen, ihm dabei immer zuzustimmen, niemals Nein zu sagen, ihm systematisch in seinem Sinne beizupflichten mit ihrem mehrdeutigen und in sich widersprüchlichen »Yes« (»Yes, I don’t know«) , was ihn nur noch mehr in Unruhe versetzte.
Der Verkehr floss wieder normal, aber der Regen fiel jetzt stärker als zuvor, begleitet von heftigen Windböen, die gegen die metallene Umwandung des Vans stießen, der mit hoher Geschwindigkeit die Autobahn entlangfuhr. Schon kam Narita Airport in Sicht, erste Hinweise kündeten ihre unmittelbar bevorstehende Ankunft an: das Narita Hilton am Straßenrand, ein großes, in dieser regentriefenden Nacht hell strahlendes Schild, das für die Fluggesellschaft ANA warb. Das Flughafengelände war durch einen doppelten Metallzaun mit Stacheldraht gesichert, dahinter erstreckte sich im Dunkel ein weitläufiges, mysteriöses Gebiet. Vor der Zufahrt zum Flughafen verlangsamte der Konvoi sein Tempo und reihte sich in eine der Warteschlangen vor einer Polizeikontrolle ein. An einem Portal, das wie eine Autobahnmautstation aussah, standen mehrere Polizisten in durchsichtigen Regencapes und regelten mit fluoreszierenden Stöcken die Durchfahrt der Autos. Ein Polizist stieg zu den Japanern in den Minibus, prüfte mit schnellem Blick deren Pässe, die sie ihm zuvorkommend entgegenhielten, deutete mit einem Finger auf jeden Pass und verließ den Wagen dann gleich wieder, während ein anderer Polizist aus dem Wächterhäuschen kam und sich der Limousine näherte. Jean-Christophe de G. betätigte mit dem Drücken eines Schalters in seiner Armlehne den elektrischen Fensterheber und streckte ihm ins Dunkel seinen Pass entgegen, seinen Pass und den des Pferdes, weil das Pferd ebenfalls einen offiziellen, in Plastik eingeschweißten, fälschungssicheren, persönlichen Identitätsnachweis besaß (mit Foto, Geburtsdatum und Stammbaum). Der Polizist öffnete den Pass von Jean-Christophe de G., betrachtete das Foto und reichte ihn ihm zurück, dann öffnete er den Pass des Pferdes, beugte sich ins Wageninnere und musterte einen Moment etwas aufmerksamer Maries Gesicht (aber bitte, selbst in diesem Halbdunkel hätte niemand Marie für ein Pferd halten können). Jean-Christophe de G., der begriff, dass hier eine Verwechslung drohte, bat Marie – die sich geistesabwesend von all dem nicht angesprochen fühlte –, dem Polizisten ihren Pass zu zeigen. Doch Marie hatte, wenn es darauf ankam, schon immer größte Mühe gehabt, ihren Pass zu finden, sie schreckte aus ihrem Dämmerzustand auf, ihr Gesicht nahm bereits schuldbewusst die jetzt auf sie zukommende schmerzvoll-vergebliche Suche vorweg und ließ sich von einer Aufwallung chaotischer Frenesie erfassen, jener eigenartigen Mischung aus gutem Willen und Panik, die so typisch für sie ist, wenn sie etwas sucht, und verzweifelt begann sie, ihre Handtasche zu durchwühlen und auf den Kopf zu stellen, holte Kreditkarten, Briefe, Rechnungen, ihr Mobiltelefon heraus, ließ ihre Sonnenbrille auf den Boden fallen, erhob sich von ihrem Sitz, wand sich hin und her, um die Taschen ihres Rocks zu durchsuchen, ihres Jacketts, auch ihres Mantels, immer versichernd, dass sie ihren Pass mit sich führe, nur nicht mehr wisse, wohin sie ihn gesteckt habe, in welcher der Taschen oder welchem Koffer er sein könne, genau dreiundzwanzig Gepäckstücke hatte sie dabei (nicht mitgezählt die Tüte mit den Fugu-Sashimi, in die sie, um ihr Gewissen zu beruhigen, ebenfalls einen Blick warf). Aber es war vergeblich, der Pass blieb unauffindbar. Sie mussten aus der Limousine aussteigen – Jean-Christophe de G. gab sich beherrscht, sagte zu ihr mit tonloser Stimme, es sei nicht so schlimm, während er mit finsterer Miene auf seine Uhr blickte –
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