Die Wahrheit über Marie - Roman
und im Regen den Kofferraum öffnen, das Gepäck herausholen und es unter den eiskalten und gleichgültigen Augen des Polizeibeamten vor Ort auf der Straße öffnen. Ich muss ihn im Hotel vergessen haben, sagte Marie, sie sagte es in aller Unbekümmertheit, fast beschwingt, als würde die Aussicht auf das Schlimmste – in der Polizeikontrolle von Narita Airport keinen Pass zu haben – sie begeistern, sie gar berauschen, als stellte sie sich schon vor, wie komisch die ganze Geschichte sein würde, wenn man sie später einmal im Rückblick erzählen würde. Diese Phantasie, diese Leichtigkeit, diese entzückende, strahlende, bezaubernde Unbekümmertheit war Teil ihres Charmes, eine ihrer sichersten Eigenschaften, und wäre natürlich umso herzerfrischender gewesen, wenn man nicht direkt davon betroffen gewesen wäre. In allererster Linie betroffen aber war in diesem Fall Jean-Christophe de G., der sie fest an beiden Armen packte (sein zuvor so galantes Verhalten begann, Risse zu bekommen) und sie aufforderte, genau nachzudenken, wo sie ihren Pass hingetan hatte. Aber ich weiß es doch nicht, antwortete ihm Marie – er fing an, ihr mit seiner Fragerei auf die Nerven zu gehen –, vielleicht suchen wir einmal in dem Handköfferchen, in dem das Flugticket ist, schlug sie ihm vor. Und sie fischte das lederne Köfferchen aus dem Kofferraum, fand darin sofort ihren Pass und hielt ihn dem Beamten entgegen, der seinerseits kaum einen Blick darauf warf (es war nur eine einfache Routinekontrolle an der Einfahrt zum Flughafen).
Wieder in die Limousine eingestiegen, setzte sich der Konvoi in Richtung des Frachtterminals von Narita Airport in Bewegung, sie folgten den Wegweisern, großen grünen Schildern, die in der Nacht hell angestrahlt wurden, Cargo Building No 2, Cargo Building No 3, ANA Export, Common Import Warehouse, IACT. Die drei Fahrzeuge fuhren hintereinander auf einer verlassenen Straße, die mit Versorgungsgebäuden gesäumt war. Auf beiden Seiten erstreckte sich eine schier unendliche Weite, begrenzt in der Ferne durch die rot und weiß leuchtenden Anflugbefeuerungen. Da die Straße jetzt nicht mehr beleuchtet war, fuhren sie durch tiefste Finsternis, sahen hier und dort die Umrisse von Flugzeugen aufragen, die reglos auf ihren Parkpositionen standen. Die drei Fahrzeuge bogen auf einen vom Regen aufgeweichten Mittelstreifen, fuhren mit leuchtenden Scheinwerfern wie in Zeitlupe hintereinander her, passierten eine Reihe großer Hangars mit gewaltigen geöffneten Schiebeportalen, aus denen grünlich-künstliches Licht leuchtete. Jeder Hangar war mit riesigen Buchstaben beschriftet, die die verschiedenen Frachtzonen anzeigten, E, F, G, der Konvoi hielt vor dem Eingang von Block F.
Die Zollabfertigung von Narita Airport schloss in weniger als zehn Minuten, und so stürzten die vier Japaner Hals über Kopf, die Hände voller Dokumente und offizieller Papiere, aus dem engen Minibus und verschwanden in dem Hangar. Mit einigem Abstand folgten ihnen hastig Jean-Christophe de G. und Marie, Marie im Rock und schwarzen Stiefeln, mit ihrem Ledermantel über dem Arm, den sie sich im Laufen überwarf, um sich vor der Kälte zu schützen, die an diesem düsteren und feuchten, nach allen Seiten hin offenen Ort herrschte. Es war ein weitläufiger, mehr als zweitausend Quadratmeter großer Hangar, eine Stahlkonstruktion, die aussah wie ein nach Geschäftsschluss verlassener Fischmarkt mit leergeräumten Verkaufsständen, auf dem Angestellte den Boden mit einem dicken Wasserstrahl abspritzen. In den meisten Lagerbereichen war das Licht ausgeschaltet, Planen waren über Kisten gedeckt, die Regale leer, Lastenaufzüge außer Betrieb, Lattenroste verwahrlost. Hier und da surrte ein Gabelstapler durch die menschenleeren Gänge, chauffiert von einem Arbeiter mit Helm und weißen Handschuhen, der seine Ware zu einem der wenigen noch geöffneten Abschnitte brachte, kleine Inseln von lärmender Geschäftigkeit, brutal angestrahlt mit weißen Neonröhren, wo ein paar Lagerarbeiter Kisten in Aufzüge schoben, Transportgüter aller Art, vakuumverschweißt oder in einfachen gelben, mit Etiketten gespickten Kartons oder billige, schlecht verschnürte Kisten mit Frischprodukten. Am hinteren Ende des Hangars, inmitten von auf den Wänden platzierten Firmenschildern, KLM Cargo, SAS Cargo, Lufthansa Cargo, neben einer Reihe von verwaisten Schaltern verschiedener Fluglinien, ließ sich das verglaste Büro der Zollabfertigung erahnen.
Im Zollbüro
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