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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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doch gerade mal eine Woche her war, dass wir gemeinsam nach Japan gekommen waren.
    Das Fenster ihres Hotelzimmers in Tokio war nass, mit Regentropfen gesprenkelt, die in gestrichelten, unterbrochenen Schlieren träge die Fensterscheibe herunterrannen und abrupt, ohne ersichtlichen Grund in ihrem Schwung gebremst, anhielten. Marie hatte den Hörer aufgelegt und war reglos vor der großen Fensterscheibe, die auf das Verwaltungsviertel von Shinjuku zeigte, stehen geblieben, nachdenklich, mit bedrücktem Gesicht schaute sie auf die Stadt hinunter, die fast gänzlich unter dem Regendunst verschwunden war, hielt den Blick auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne fixiert, mit jener träumerischen Schwermut, die uns erfasst, wenn uns bewusst wird, dass die Zeit vergeht und wieder etwas vorbei ist, für immer abgeschlossen, und jedes Mal ein Stück mehr, je mehr wir uns dem Ende nähern, dem Ende unserer Liebe und dem Ende unseres Lebens. Jetzt, wo es für sie an der Zeit war, Tokio zu verlassen, dachte Marie an mich – an mich, von dem sie sich genau hier an diesem Ort getrennt hatte, in diesem Hotelzimmer, das wir am Abend unserer Ankunft in Japan miteinander geteilt hatten, dieses Zimmer, in dem wir uns zum letzten Mal geliebt hatten, dieses Bett, in dem wir Liebe gemacht hatten, dieses ungemachte Bett hinter ihr, in dem wir uns entzweit und umarmt hatten. Marie hätte lieber nicht mehr an mich denken wollen, nicht jetzt und nicht später, aber sie wusste sehr genau, dass dies nicht möglich war, dass ich jeden Augenblick wieder gegen ihren Willen auf unterschwellige Weise in ihren Gedanken aufzutauchen drohte, wie eine plötzliche immaterielle Reminiszenz meiner Person, meiner Vorlieben und meiner Art, die Welt zu sehen, die eine oder andere intime Erinnerung eben, die untrennbar mit mir verbunden war, denn ihr wurde bewusst, dass ich selbst als Abwesender in ihr weiterleben und sie in Gedanken heimsuchen würde. Wo ich mich gerade befand, davon hatte sie keine Ahnung. War ich noch in Japan oder war ich bereits nach Europa zurückgekehrt, hatte auch ich meine Rückreise vorverlegt? Und warum hatte sie nichts mehr von mir gehört? Warum hatte ich mich seit meiner Rückreise von Kioto nicht mehr bei ihr gemeldet? Sie wusste es nicht, sie wollte es nicht wissen. Sie wollte nichts mehr von mir hören, kapiert, niemals – Schluss und aus jetzt mit mir.
    Als Jean-Christophe de G. Marie am Nachmittag vom Hotel abholen wollte, war sie noch nicht fertig, das Zimmer war noch unaufgeräumt, das Bett nicht gemacht, die Koffer standen weit offen. Marie war mit hundertvierzig Kilo Gepäck nach Japan gereist, verteilt auf mehrere Überseekoffer, Metallkisten, Fotorollen und Hutschachteln, und auch wenn die meisten der Koffer und anderen Gepäckstücke nicht nach Europa zurückgebracht werden mussten (denn die Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa lief noch mehrere Monate), war Marie das scheinbar Unmögliche gelungen, fast genau so viel Gepäck für ihre Rückreise wie bei ihrer Hinreise zu haben, wenn auch nicht vom Gewicht, so doch zumindest vom Volumen und der Anzahl der Gepäckstücke her, um die Koffer herum hatte sich ein Haufen von Taschen und Tüten aller Größen angesammelt, aus Leder, Leinen oder aus Papier, hart, weiß, kartoniert, mit fleischfarbenen verstärkten Plastikgriffen, gefüllt mit Krimskrams, Einkaufstüten des Kaufhauses Takashiyama, die mit Bildern blühender roter Rosen bedruckt waren, gefüllt mit Geschenken, die man ihr gemacht hatte, und Geschenken, die sie anderen machen wollte, sie hatte Naturseide und kostbare Stoffe eingekauft, seidene Kimonogürtel und andere nette Kleinigkeiten, Einkäufe aller Art, Papierlampions neben Päckchen mit Algen, Tee in Dosen oder Beuteln, auch frische Lebensmittel, zwei vakuumverpackte Schälchen mit Fugu-Sashimi, die sie in ihrer Minibar zwischen Bierdosen und Minifläschchen mit Alkoholika aufbewahrt hatte. Jean-Christophe de G. musste sie von der Rezeption aus zweimal in ihrem Zimmer anrufen und sie taktvoll bitten, sich zu beeilen, und sie darauf hinweisen, schneller zu machen, da es höchste Zeit sei und das Pferd und die Autos warteten. Für einen kurzen Moment wurde Marie daraufhin beim Packen durch einen kurzen spontanen Schwung belebt und vervielfachte ihre chaotischen Handgriffe in einem Anfall von Panik und gutem Willen (ihr dauerndes Zuspätkommen machte Marie in der Regel durch hektische Beschleunigung auf den letzten Metern wett, im

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