Die Wall Street ist auch nur eine Straße
chronisch unfähig.
Wie man durch einen Blick auf die Landkarte sieht, ist Indien keine vernünftige Konstruktion. Bis 1947 hat es in der heutigen Form nie existiert. Die Engländer haben es zusammengestümpert, als sie in Panik das Land verließen, weil die Reiche der Rajas kollabierten. Die heutigen indischen Grenzen wurden von den Engländern festgelegt. Dabei fassten sie viele ethnische Gruppen mit zahlreichen Sprachen und Religionen zusammen, von denen nur sehr wenige gut miteinander auskommen. Die Muslime bilden zwar nur eine Minderheit, aber angesichts einer Bevölkerung von einer Milliarde Menschen ist Indien dennoch eines der größten muslimischen Länder der Welt. Und die Muslime und die Mehrheit der Hindus schlachten einander immer noch gegenseitig ab.
Als das Land 1947 unabhängig wurde, war Indien dennoch eines der erfolgreicheren Länder der Welt, ein demokratisches Land. Aber trotz der Demokratie, vielleicht sogar wegen ihr, hat Indien sein Potenzial nie ausgeschöpft. Noch 1980 war China ein Trümmerhaufen. Indien stand viel besser da. Aber seither hat China Indien weit hinter sich gelassen. China hat seine Grenzen und seine Wirtschaft dem Rest der Welt geöffnet. Überall in China gibt es WalMart-Supermärkte, im protektionistischen Indien dagegen dürfen Ausländer keine Läden eröffnen. Bislang hält man so etwas für eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Während China aufsteigt, fällt Indien im Vergleich dazu ab. Die Staatsverschuldung beträgt heute 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), was starkes Wachstum so gut wie unmöglich macht.
Als Jim O’Neill seine Verdienste feierte, war er noch nie in Indien gewesen, und schon gar nicht war er im Auto zweieinhalb Monate lang kreuz und quer durch das Land gefahren, wie Paige und ich es in diesem Jahr getan hatten. Er war aber nicht der Einzige, der keine Ahnung hatte. Der »Experte für globale Angelegenheiten« Stephen Roach, Morgan Stanleys Asien-Chef, reiste 2004 zum ersten Mal nach Indien und kam strahlend wieder heim. Er erzählte von seiner Besichtigung des Tadsch Mahal in der Stadt Agra (eine Erfahrung, die man wirklich nicht verpassen darf) und beschrieb eine Reihe von Missgeschicken bei seiner Reise, denen er zuschrieb, dass die Fahrt von Delhi aus fünf Stunden gedauert hatte. Die Entfernung beträgt nur 200 Kilometer. Was Stephen nicht über Indien wusste, und was er während eines dreitägigen Besuchs wohl auch nicht herausfinden konnte, war, dass es immer fünf Stunden dauert, wenn man von Delhi nach Agra fährt. Und auch das nur, wenn alles klappt. Aber das ist das Niveau von Erfahrung, das an der Wall Street als Weisheit durchgeht.
2001 kannte jeder an der Wall Street zumindest einen Inder, weil Inder die Derivate-Abteilungen leiteten. Ende der 1990er-Jahre aß ich mit zwei hochrangigen Managern aus zwei verschiedenen Firmen zu Mittag. Sie sprachen ständig über das, was in ihren Handelsabteilungen vor sich ging, und dann redeten sie über Derivate. Der eine von ihnen fragte den anderen: »Wie können wir in dieses Geschäft einsteigen?« Die Antwort: »Besorgt euch einen Inder.«
In Indien gibt es nur sehr wenige Universitäten, vor allem gemessen an der Größe der Bevölkerung. Daher müssen ehrgeizige Inder für ihre Ausbildung ins Ausland gehen, und viele von ihnen kommen in die USA, um dort einen Universitätsabschluss zu machen. Sie sind bekannt für ihre Konzentration auf Mathematik und die Ingenieurwissenschaften. Viele interessieren sich auch für Finanzen, und damals landeten sie in den Tradingabteilungen, in den Back Offices und den Abteilungen für Vermögensverwaltung New Yorker Finanzfirmen. Sie verwendeten ihre mathematischen Kenntnisse, um die Derivate zu kreieren, in die die Wall Street damals geradezu vernarrt war.
Aufgrund der starken Stellung der Inder in den Finanzfirmen glaubten die nicht besonders intelligenten Leute an der Wall Street 2001 allmählich, in Indien passiere etwas. Jim O’Neill nahm an, das Land müsse ein ähnlicher aufgehender Stern wie China sein. Er zog eine Landkarte hervor und sah, dass die beiden Länder nebeneinander liegen. Hmm. Beide waren groß, beide hatten eine große Bevölkerung – und jetzt, wo er darüber nachdachte, traf das ja auch auf Brasilien und Russland zu. Aber danach, so viel ist klar, hatte er ebenso wenig Ahnung wie Stephen Roach, der zu Morgan Stanleys Asien-Chef ernannt worden war, ohne jemals in Indien gewesen zu sein. Aber Ehre, wem Ehre
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