Die Wall Street ist auch nur eine Straße
Machtverhältnisse weg von den G7-Ländern und hin zu den sich entwickelnden Ländern, allen voran Brasilien, Russland, Indien und China – daher das Kürzel. Diese vier Länder, die Paige und ich alle tatsächlich bereisten, umfassen ein Viertel der Landmasse der Erde und 40 Prozent ihrer Bevölkerung. O’Neill war der Meinung, bis Mitte des Jahrhunderts würden ihre Volkswirtschaften zusammengenommen stärker werden als alle Volkswirtschaften der reichsten Nationen der Welt. Natürlich hatte er keine Ahnung, wovon er sprach, und wie ich ihm inzwischen – erst 2012 – von Angesicht zu Angesicht gesagt habe, spricht das Festhalten an dieser These für eine Ignoranz der globalen Tatsachen, die man bestenfalls als irritierend bezeichnen kann. Er schafft es aber nicht, neue Belege für seine These zu finden. Sie ist sein Steckenpferd, das ihn zu der Berühmtheit getragen hat, die er heute genießt, und er macht keine Anstalten abzusteigen, bis er es in Grund und Boden geritten hat.
China als Erfolgsmodell auszuwählen – das einzige der vier Länder, das zu besuchen O’Neill sich die Mühe gemacht hatte –, machte ihn nicht zu einem klugen Kopf. Damals registrierte wirklich jeder den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Ich hatte schon seit zehn Jahren, seit meiner Durchquerung Chinas auf dem Motorrad 1998, in den Medien darüber berichtet.
O’Neills Ignoranz der Geschichte Brasiliens hat ihn bis heute dazu verführt, die Tatsache zu verkennen, dass das Land seinen Wohlstand fast ausschließlich der Hausse an den Rohstoffmärkten verdankt, die, wie jede Hausse, irgendwann enden wird. Beschränkungen von Landkäufen durch Ausländer, Wechselkurskontrollen, hohe Zölle und wachsender Protektionismus – all die Dummheiten, zu denen Politiker unvermeidlich neigen – sprechen nicht für eine wachsende Produktivität Brasiliens in der Zukunft. Die Brasilianer selbst haben ein Sprichwort: »Brasilien ist das kommende großartige Land auf der Welt. Das war schon immer so und wird immer so bleiben.« Und sie nennen auch den Grund, warum das Land die Verheißungen nie erlangen wird: »Brasilien ist das auserwählte Land Gottes, das Land, das er am meisten liebt. Das Problem ist, dass er Brasilianer geschickt hat, um das Land zu regieren.«
Jede Steigerung des Wohlstands in Russland ist die Folge der Rohstoffhausse, die ihre Sonnenstrahlen auch über Brasilien ausbreitet. Die Russen sehen sich derzeit mit der schlechtesten aller Welten konfrontiert. Angesichts einer sehr niedrigen Geburtenrate stehen sie vor einem ernsthaften demografischen Problem. Die Bevölkerung altert rapide, und die steigende Zahl der Menschen, die das Land verlassen, verschärft das Problem noch. Es wäre sogar noch schlimmer, würde man nicht so viele ethnische Russen, die in den Staaten der früheren Sowjetunion nicht willkommen sind, zur Rückkehr nach Russland zwingen. Wenn man zu dieser prekären Lage noch die im Vergleich zu anderen Ländern niedrige Lebenserwartung addiert, fällt es schwer zu sehen, wie O’Neills Hypothese jemals an Fahrt gewinnen soll. Meiner Meinung nach ist Russland schon heute ein hoffnungsloser Fall und wird sich noch weiter auflösen. In vielen entlegenen Regionen Russlands, mit verschiedenen ethnischen Gruppen, Religionen und Sprachen, gibt es separatistische Tendenzen. Ich bin tatsächlich optimistisch, was die veränderte Einstellung Moskaus betrifft, aber man muss die Perspektive wahren.
Ganz im Gegensatz zu Russland kann die hohe Geburtenrate in Indien mehr Probleme verursachen, als sie löst. Man prognostiziert, dass die Bevölkerung Indiens bald größer sein wird als die Chinas – eines Landes, das dreimal so groß ist wie Indien. Und Indien ist nicht in der Lage, alle diese Menschen zu ernähren. Das Land hat sich ja schon als unfähig erwiesen, seine jetzige Bevölkerung zu ernähren. Eigentlich sollte Indien zu den landwirtschaftlich produktivsten Ländern der Welt gehören, aber die Politik der Regierung verhindert das. Indische Bauern dürfen nicht mehr als fünf Hektar Land besitzen; dadurch sind Massenproduktion und Skaleneffekte so gut wie unmöglich. Die Infrastruktur in vielen agrarisch geprägten Regionen wurde vernachlässigt oder existiert überhaupt nicht. Daher verfaulen die Ernten sogar in sehr produktiven Jahren, noch bevor sie auf den Markt kommen. Das Land wird von einer Bürokratie geknebelt, die schlimmer ist als irgendwo sonst auf der Welt, die Regierung ist korrupt und
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