Die Wanderbibel
einem Banddurchschnitt – feierlich eröffnet. Eine Tatsache, die sogar BILD eine Schlagzeile wert war. Auf über achtzehn Kilometern können sich hier die Wanderer, Jacke wie Hose entledigt, völlig frei ihrer Leidenschaft hingeben. Nach Angaben der Betreiber des ungewöhnlichen Weges bietet sich das landschaftlich beschauliche Wippertal für die Freunde des Nacktwanderns besonders an, weil es hier viel schönen Wald, jedoch wenig Touristen gäbe.
Inoffiziell eröffnet wurde der »Naturistenstieg« bereits im September des Vorjahres. Allerdings wucherten zum damaligen Zeitpunkt noch reichlich Brennnesseln am Wegesrand, ein prickelnd-pieksender Umstand, der für textilfreie Wanderer unangenehm werden kann.
Damit sich bekleidete Wanderer und ebensolche Spaziergänger beim plötzlichen Auftauchen der Nackerten nicht zu Tode erschrecken, hat der Initiator des Naturis tenstiegs, ein lokaler Campingplatzbetreiber, überall extra angefertigte Warnschilder aufstellen lassen, die allerdings nicht den strengen Richtlinien der bundesdeutschen Stra ßenverkehrsordnung Rechnung tragen. »Willst du keine Nackten sehen, darfst du hier nicht weitergehen«, ist auf den etwas gewöhnungsbedürftigen gelben Hinweistafeln zu lesen. Was aber nicht heißen soll, dass Nor malowanderer auf dem Naturistensteig nicht willkommen wären – immer vorausgesetzt, sie haben keine Probleme mit nac kten Tatsachen.
Von der Justiz haben die Nacktwanderer wenig zu befürchten, kennt die deutsche Rechtsprechung doch keine justiziable Kleiderordnung. Lediglich Artikel 118 Ordnungswidrigkeiten-Gesetz (Belästigung der Allgemeinheit) und Artikel 183a Strafgesetzbuch (Erregung öffentlichen Ärgernisses) bedrohen die unbekleideten Naturfreunde. Aber für Ersteren braucht es eine vorhandene Allgemeinheit und für Zweiteren eine sexuelle Absicht, und die kann man dem gewöhnlichen Nacktwanderer wohl kaum unterstellen. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass er ausgerechnet auf einem Nacktwanderpfad ihr, der Frau seines Lebens, begegnet und seine Absichten dann mit einer prächtigen, wenn auch in diesem Fall politisch unkorrekten, Erektion untermauert?
Etwas anders sieht es, zumindest aus juristischer Warte, bei unseren Schweizer Nachbarn aus. Als nämlich 2008 die einschlägige Internetplattform nacktwandern.de ihren Lesern das Schweizer Alpsteinmassiv als »besonders geeignet für das Nacktwandern« anpries und daraufhin hüllenlose Bergfreunde gleich dutzendweise in die Appenzeller Bergwelt einfielen, platzte den eidgenössischen Behörden relativ schnell der Kragen. Der Kanton Appenzell Innerrhoden erließ Ende April 2009 ein Verbot und erklärte das Nacktwandern zum Offizialdelikt, das mit 200 Franken Buße bestraft wird. Der Kanton Appenzell Innerrhoden war übrigens der Kanton, in dem das Frauenwahlrecht erst 1990 (!) per Anordnung der schweizerischen Bundesregierung eingeführt wurde. Erstaunlich für ein Land, das für sich in Anspruch nimmt, die älteste Demokratie der Welt zu sein.
Anfang 2010 musste sich dann auch prompt der erste Nacktwanderer wegen »unanständigen Benehmens« vor dem Kantonsgericht verantworten. Der 47-jährige Angeklagte – schockierenderweise auch noch ein Einheimischer – war im Oktober 2009 splitternackt wandernd im Appenzellerland beobachtet und von einer Frau angezeigt worden. Das Urteil im ersten »Nacktwanderprozess« der Welt kam dann allerdings einer kleinen Sensation gleich: Der Beschuldigte wurde freigesprochen. Verantwortlich für das überraschende Urteil waren jedoch eher formaljuristische Gründe: Der Artikel des kantonalen Strafrechts, der »unanständiges Benehmen« unter Strafe stellt, sei auf den konkreten Sachverhalt nicht anwendbar. Die Gesetzgebungskompetenz für Delikte gegen die sexuelle Integrität liege ausschließlich beim Bund, hieß es nämlich in der Urteilsbegründung. Die Freunde des Nacktwanderns feierten die Entscheidung als »Sieg der Freiheit«.
Auch »Barfußwandern« ist ein Phänomen, das so alt ist wie die Menschheit selbst: Heute jedoch ist es ein neuer Trend, der immer mehr Anhänger findet. Wurde früher noch bevorzugt im Watt und am Strand ohne Schuhe gewandert, geht es heute auch über Stock und Stein – sozusagen, so weit die bloßen Füße tragen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Beim Barfußwandern handelt es sich keineswegs um die Lightversion des Nacktwanderns. Nein, die Intention ist hier eine völlig andere: Beim Barfußwandern steht der gesundheitliche Aspekt ganz
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