Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
kaute auf ihrer Unterlippe. Aber was, wenn der Dieb das Geld gar nicht ausgab, sondern es hortete? Was, wenn er es sparte, um damit …, ja, was denn? Etwa, um sich im Falle einer Flucht eine neue Existenz aufbauen zu können?
Arigund wurde blass bei dem Gedanken. Sie musste sich setzen. Ihre Zofe hatte ihre Absicht, mit Matthias in die Stadt zu gehen, nie wieder erwähnt. Doch das Gespräch von damals war Arigund noch lebhaft in Erinnerung. Sah Annelies dem Ende ihrer Knechtschaft entgegen? War sie deshalb so guter Dinge? Aber Annelies eine Diebin? Das wollte die junge Burgherrin nicht glauben. Und keinesfalls würde sie mit irgendjemandem über ihren Verdacht reden.
*
Wirtho von Brennberg war glücklich. Endlich hatte er einen Nachfolger für seinen im Feuer erstickten Maestoso gefunden. Der dreijährige Hengst, der ihm gerade vorgeführt wurde, glich dem Rappen bis aufs Haar: Die gleichen weißen Fesseln, die gleiche pechschwarze Farbe und derselbe wilde Blick in den Augen. Der Stallmeister war weniger begeistert von dem Tier. Er hatte seine liebe Not, den Gaul im Zaum zu halten. Immer wieder schlug der Hengst mit dem Kopf, wenn er die Kandare spürte, und trat aus, wenn ihr schmerzhafter Zug ihn zur Ordnung rief.
»In der Tat ein prächtiges Tier, Theobald«, lobte Wirtho. »Habt ihr ihm schon einen Sattel aufgelegt?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Herr, ich wollte Euer Urteil abwarten, bevor wir anfangen, mit ihm zu arbeiten. Zudem ist er im Charakter nicht einfach.«
»Was für ein Fuchs du doch bist, alter Mann. Du hast doch geahnt, dass mir dieser Gaul das Glitzern in die Augen treibt. Lass ihn uns Maestoso II nennen und so schnell als möglich mit der Ausbildung beginnen. Mich giert, in seinen Sattel zu steigen. Hast du schon jemand, der ihn für mich einbricht?«
Erneut schüttelte Theobald den Kopf. »Von den Rittern und Knappen wagt es keiner, ihn zu besteigen, und den Reitknechten möchte ich solch ein wertvolles Tier nicht gern anvertrauen.«
»Und wieder sprichst du weise, Theobald.« Selbstbewusst näherte sich Wirtho und wollte das Pferd am Hals klopfen. Zornig legte der Rappe die Ohren an und versuchte nach der Hand zu schnappen. Er wurde vom Stallmeister dafür hart in die Parade genommen.
»Wirst du wohl!«, schimpfte der alte Mann.
»Der lässt sich nicht leicht Befehle erteilen, was, Theobald?«, lachte der Ritter laut. »Pass auf, Matthias soll sich an ihm versuchen. Sobald unser Schmuckstück dann einen Reiter im Sattel duldet, werde ich selbst mich um den Rappen kümmern. Dass dem Gaul bis dahin ja nichts passiert. Ich mach dich persönlich für ihn verantwortlich. So einen Prachtburschen haben wir nur alle paar Jahre mal.«
»Der Matthias, Herr?«, hakte der Stallmeister noch einmal nach.
»Hast du was an den Ohren, Mann?«, fuhr ihn der Adelige an.
»Nein Herr, es ist nur …«
»Was denn?!«
»Der hat seit …, seit damals kein Pferd mehr bestiegen.«
»Das will ich ihm auch geraten haben«, knurrte Wirtho.
»Früher wär der Rotbart für so ein Pferd genau der Richtige gewesen, aber er ist nicht mehr derselbe seither. Ihm fehlen Mut und Biss für so ein Tier.«
»Lass ihn so lange wieder aufsteigen, bis er sich daran erinnert, wie man oben bleibt.«
»Er könnte sich dabei das Genick brechen …«, wandte der Stallmeister ein.
»Wir füttern hier keine Taugenichtse durch. Setz ihn auf den Gaul! Und wenn ihn dabei der Teufel holt, sei’s drum. Brennberg hat nichts zu verschenken.«
»Aber was wird dann mit dem Pferd?«
»Wir haben doch genug Knechte«, meinte Wirtho ungehalten. »Zum Maienfest möchte ich den Hengst in jedem Fall reiten.«
»Zum Maienfest? Das ist bereits in drei Wochen!«, wandte der Stallmeister ein. »Ein solches Pferd braucht Zeit, sich an den Reiter zu gewöhnen.«
»Bist du Stallmeister, Mann, oder ein zahnloses Weib, das bloß unkt? Scher dich an die Arbeit!«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Burgerbe um und rieb sich die Hände. Der Rappe würde ein prächtiges Streitross abgeben, mit dem er bei jedem Turnier die Blicke auf sich ziehen würde. Schon der Anblick des gewaltigen Tieres würde seine Gegner erzittern lassen. Wirtho glaubte bereits, die Erde unter den Hufen seines neuen Maestoso beben zu hören, den Aufprall der Lanzen zu spüren und dann den Triumph zu kosten, wenn sein Gegner im Staub lag! Heute war sein Glückstag! Das musste gefeiert werden. Ein Krug Bier und ein Spielchen mit seinen Kumpanen Sigurd und Waldemar
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