Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
Doch wie konnte das sein, wenn sie tot war? Hastig drehte Heinrich die junge Frau um. Er hatte sich getäuscht. Ihr Hals war vollkommen unverletzt. Sie hatte Vaclavs Messer mit den Armen abgewehrt. Erleichtert zog Heinrich sie in seinen Schoß und flüsterte ihren Namen. Hastig zerriss er ein nasses Leinentuch, das in einer Schüssel schwamm. Er verband die Verletzungen an den Armen. Wegen der Kälte der Tücher schlug Arigund die Augen auf. Heinrich war sich ganz sicher, Glückseligkeit darin zu lesen, als sie seinen Namen flüsterte. Er selbst aber schwieg.
K APITEL 29
J ANUAR 1271
Das neue Jahr war mit solch gewaltiger Kälte hereingebrochen, dass sich eine feste Eisschicht über der Moldau gebildet hatte. Arigunds Blick glitt über die glatte, schneebedeckte Fläche, unter der sich der gewaltige Fluss verbarg. Der übermütige Nachwuchs der Burgmannen lieferte sich dort seit Tagen schreiend und schlitternd wüste Schneeballschlachten. Auch heute tobten dort die Kleinen, fest verpackt in bunte wollene Mäntel, die Gesichter vermummt von wärmenden Schals, auf dem Eis. Ihre frierenden Mütter oder Kinderfrauen beobachteten sie skeptisch, traten von einem Fuß auf den anderen und rieben sich die rot verfrorenen Hände. Die mutigsten Buben strebten weit hinaus in die seit dieser Nacht zugefrorene Flussmitte, wo sie von zunächst besorgten, zusehends jedoch ärgerlichen Rufen der Frauen wie an einer unsichtbaren Leine geführt zurückgeholt wurden. Manch ein Knabe bezahlte für seine Tollkühnheit mit einer Kopfnuss, die er wie einen Ritterschlag empfing. Anschließend schlurfte er grinsend zu den anderen zurück, um mit seinem Wagemut zu prahlen. Arigund schritt an Heinrichs Seite den breiten Uferpfad entlang und war froh, ihren Retter endlich einmal sprechen zu können. Während der Wochen ihrer Genesung hatte sie Heinrich kaum zu Gesicht bekommen. Angeblich hatten ihn Pflichten gebunden. Heinrich hatte sie nach ihrer Befreiung an den Hof gebracht. Kaum jemand hatte Fragen gestellt. Auf dieser Burg gingen so viele Menschen ein und aus, dass einer mehr oder weniger überhaupt nicht auffiel, vor allem, wenn er unbedeutend erschien. Gesund gepflegt hatte sie eine Kräuterfrau, die selbst kurz vor ihrer Niederkunft stand. Am heutigen Morgen hatte sie sich mit den Worten, der junge »Herr Tassilo« würde ihrer Pflege nicht mehr bedürfen, verabschiedet.
Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, war sich Arigund sicher, dass die Heilkundige wusste, dass »Tassilo dal Monte« in Wirklichkeit eine Frau war, aber sie war tunlichst darüber hinweggegangen. Überhaupt behandelte die Heilerin Arigund ungewöhnlich respektvoll. Was die Vorkommnisse in der Spelunke anging, hielt sie sich allerdings bedeckt. Nur dass Heinrich es gewesen war, der sie aus Vaclavs Händen befreit hatte, verriet sie und dass sie nun keine Angst mehr zu haben brauche, weil der Räuber sein Leben gelassen habe. Eine Welle der Erleichterung hatte Arigund erfasst. Trotzdem hatte sie sich gefragt, warum Heinrich sie nicht ins Haus ihres Onkels gebracht hatte, sondern hierher auf die Burg und warum sie dort nach wie vor als Tassilo, der Spielmann, galt. Als sie jetzt an seiner Seite die Moldau entlangschritt, brannten ihr all diese Fragen auf der Zunge, doch Heinrich gab sich ungewohnt verschlossen. Schweigend setzte er Fuß vor Fuß, bis das gewaltige Bauwerk der Judithabrücke sich vor ihnen erhob. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken, deshalb wollte ihn Arigund nicht mit Fragen bedrängen.
»Was für ein Wunder an Baukunst«, brach Arigund mit einem unverfänglichen Thema das Schweigen. »Ich dachte stets, unsere Regensburger Brücke sei nicht zu übertreffen. Doch scheint diese noch gewaltiger.«
Die junge Frau blickte an den Brückenpfeilern hoch und betastete die glatte Oberfläche der Steine. Schließlich versuchte sie, den Brückenpfeiler mit den Armen zu umspannen, was sich jedoch als aussichtsloses Unterfangen erwies. Sie waren zu mächtig.
»Wie klein man sich neben solchen Säulen vorkommt«, stellte sie fest. »Man kann sich kaum vorstellen, dass sie von Menschenhand errichtet wurden.«
»Arigund, ich bin nicht mit Euch hierhergekommen, um über Baukunst zu sprechen«, begann Heinrich schließlich zögernd. Seine Stimme klang ungewohnt abweisend.
»Weshalb dann?«, fragte die junge Frau unsicher. »Ich merke doch, dass Euch etwas bedrückt, Herr Heinrich. Sprecht mit mir, vielleicht kann ich beitragen, die Last von Eurer Seele zu
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