Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
verboten, während der Buße zu sprechen, weder mit Worten noch mit Gesten. Betrete nun das Haus des Herren, mein Kind, und entsage deinem sündigen Tun!«
Mühsam kämpfte sich Arigund auf den Knien vorwärts, begleitet vom monotonen Gesang des Mönches. Zumindest traf er den Ton. Sie hatte die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als sie eine Gestalt auf dem Kirchenboden liegen sah. Sie erschrak. Nicht, dass sie noch keinen Toten gesehen hätte. Die Besuche im Hospiz, das ihr Vater großzügig unterstützte, brachten einen solchen Anblick unweigerlich mit sich. Aber normalerweise wurden die Toten gesalbt und aufgebahrt. Dieser Jüngling jedoch lag in der Haltung des Gekreuzigten am Boden. Auch war abgesehen vom Priester niemand in der Nähe, der Totenwache hielt oder den Verlust beklagte. Angst kroch in Arigunds Nacken. Was, wenn dieser Priester besessen war und sie umbringen wollte? Ihre Lippen formten ein Ave Maria, und sie sprach es zum ersten Mal von Herzen. Niemand konnte sie nunmehr beschützen, außer der Jungfrau selbst.
K APITEL 8
Der nächste Morgen begrüßte Arigund mit ein paar freundlichen Sonnenstrahlen. Sie fühlte sich deutlich besser und beschloss, vor dem Frühstück einen Rundgang durch ihr neues Zuhause zu unternehmen. Annelies half ihr beim Ankleiden und ordnete das Haar ihrer Herrin. Ganz nebenbei tuschelten die Mädchen über Arigunds nächtliches Abenteuer. Im Nachhinein war alles gar nicht so schlimm gewesen. Der »Gekreuzigte« hatte sich als harmloser Junge herausgestellt, der wohl in etwa in Arigunds Alter war. Um wen es sich handelte, hatte Arigund nicht herausbekommen können, schließlich wachte der Burgkaplan eisern über das Schweigegebot. Auch hatte er die beiden Kinder nicht gemeinsam gehen lassen.
»Im Grunde ist der Kaplan gar nicht so schlimm«, meinte Arigund. »Er hat mit mir gebetet und mir heiliges Wasser angeboten, das mein Bauchgrimmen kurierte. Schau her, ich fühle mich wie neu geboren und auch die Kopfschmerzen sind weg.«
Die Zofe verkniff sich die Bemerkung, dass der vom Wein verursachte Kater vermutlich auch ohne Pater Anselms Gebete und Wässerchen verschwunden wäre. Es war einfach nur eine Frage der Zeit.
»Und nach Virgil will mir Pater Anselm die Burg zeigen. Und was wirst du heute Morgen tun?«
»In der Küche werden helfende Hände gebraucht«, erklärte die Zofe.
Arigund sah sie verwundert an. »Aber du musst das nicht, Annelies. Du bist keine Magd.«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Ach, es macht mir nichts aus, und in der Küche ist stets viel zu erfahren.«
»Also, ich bin jedenfalls gespannt auf den Rundgang und natürlich, wann ich den anderen Mädchen vorgestellt werde. Hoffentlich ist keine Gundula dabei, mit der Sprache einer aufgeblähten Kuh.«
»Fertig«, meinte Annelies. Arigund sprang vom Hocker auf und sah an sich herab. Sie trug ein hellblaues Kleid aus weicher Wolle, züchtig bis oben hin geschlossen und mit nur wenig Tand verziert. Über ihre Schultern hatte die Zofe ein fein gewebtes dunkles Tuch gelegt, das in langen Fransen auslief, ein Geschenk ihres Vaters zum letzten Weihnachtsfest. Annelies hatte auch die Schuhe vom Unrat der Tiere auf Werth gereinigt. Alles in allem fühlte sich Arigund stadtfein. Zufrieden strahlte sie ihre Zofe an. »Dann will ich sie mir mal ansehen, diese Burg.«
Mit leichten Sprüngen verließ sie den Wohnturm, hüpfte die steinernen Stufen hinauf und erreichte eine Art Aussichtsplattform. Der Blick über die dunkelgrünen Buchenwälder war atemberaubend. Ein feines Gespinst aus Nebelschwaden hing über dem Tal, und aus den Tiefen der Wälder erscholl ein Choral, gesungen von unzähligen Vogelkehlen. Arigund tat einen tiefen Atemzug. Kein Geruch nach ausgeschütteten Nachttöpfen und Küchenabfällen, sondern nur frische, herrlich klare Morgenluft.
»Nun, mein Kind, findest du Gefallen an Gottes Werk?«, vernahm Arigund eine Stimme. Sie wandte sich um und entdeckte die hagere Gestalt von Pater Anselm.
»Oh ja, es ist wunderschön und wie die Vögel jubilieren. Man möchte fast miteinstimmen.«
Der Mönch machte eine wohlwollende Geste, wie sie Arigund auch von Pater David kannte. »Wenn es dem Lobpreis des Herrn dient.«
Das ließ Arigund sich nicht zweimal sagen. Sie wusste auch schon, welches Lied sie auswählen würde: Pater Davids Choral. Kein anderes Lied brachte die Stimmung dieses Morgens so gut zum Ausdruck. Rasch fand sie in die Melodie hinein, es gelang ihr sogar eine kleine
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