Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
Schwalben verhieß einen frühen Sommer. Gemeinsam mit ihrer ersten Hofdame, Maria zu Reichenegg, einer Schwester der Herrin von Burg Heilsberg, schritt Kunigund mit erhobenem Haupt – so wie es sich für eine Adelsfreie gehörte – die Treppe zum Burghof hinunter, während ihr wacher Blick über das rege Treiben schweifte. Er blieb an einer Gruppe arg zerlumpter Kinder mit von Hunger geblähten Bäuchen hängen. Maria zu Reichenegg bemerkte den Blick.
»Gesindel«, zischte sie und machte eine Bewegung, als wollte sie ein paar lästige Fliegen verscheuchen.
»Lass gut sein«, gebot Kunigund. »Mich dauern die armen Würmer. Gewiss wurden sie von ihren Müttern geschickt, um von der Armenspeisung zur Mittagsstunde zu holen. Es ist traurig genug, dass wir ihnen wieder nichts anderes als wässrige Linsensuppe und einen Kanten Brot anbieten können.«
»Eure Mildtätigkeit in Ehren, Frau Kunigund, aber die da sind wie Schmeißfliegen: Füttert man eine, schwirren bald hunderte heran und hauen erst wieder ab, wenn die Vorratskammern leer sind. Diese Leute könnten langsam anfangen, wieder von ihrer Hände Arbeit zu leben!«
»Unseren Leibeigenen geht es wie uns: Der Winter hat die Vorräte aufgezehrt, und – Mai oder nicht – draußen wächst noch kaum etwas. Es ist einfach zu nass. Viele arme Leute haben ihre einzige Ziege schlachten müssen, weil das Futter nicht reichte und sie ihnen ohnehin verendet wäre. Jetzt fehlt die Milch.«
»Genau wie uns. Allerdings hätten wir für die Kühe eigentlich genug Futter gehabt – nur das bekamen die stolzen Rösser unserer verehrten Ritter.«
Maria starrte verdrießlich auf die im Hof bereits angebundenen Pferde. Kunigund seufzte. Auch sie hätte den Pferdebestand gern ausgedünnt, doch stieß sie da sowohl bei ihrem Gatten als auch bei Wirtho auf taube Ohren. Stattdessen hatte ein Drittel der wertvollen Schafe sein Leben lassen müssen. Die Herde war Frau Kunigunds ganzer Stolz, gab es doch weit und breit keine Tiere mit so feiner Wolle. Nach dem Christfest hatte sie um jedes Gerstenkorn für die Tiere bitten müssen, und als der Winter mit Schnee so hoch kam, dass die Männer nicht mehr zur Jagd hatten ausreiten können, waren die Schafe reihenweise in den gefräßigen Mündern der Burgmannen gelandet. Nur die wertvollsten Muttertiere hatte die Burgherrin vor dem Zugriff ihres Herrn Gemahls retten können. Doch der viele Streit hatte sich gelohnt: Inzwischen tobten kerngesunde Lämmer munter blökend im Stall herum. Leider waren nur zehn weibliche Jungtiere dabei. Sie vermochten die Lücke, die der Winter und der Mutwill ihres Gatten in den Bestand gerissen hatte, nicht zu füllen. Weitere Tiere standen zum Lammen an, darunter Löckchen, der Burgherrin liebstes Schaf, mit einem Fell, das so seidig war, dass seine Wolle nur den besten Spinnerinnen in die Hand gegeben wurde.
»Wir werden bald wieder genug Milch haben«, vertröstete Kunigund ihre Hofdame.
»Aber wie sieht es mit Brot aus?«, lamentierte Maria weiter. »Der Kornspeicher ist so gut wie leer.«
»Wenn wir uns wie bisher darauf beschränken, nur einmal die Woche zu backen, wird es uns schon bis Juni reichen.«
In diesem Moment durchmaß der Truchsess mit seinem Gefolge den Hof. Er hatte seinen Jagdrock an und hielt den Speer fest in Händen. Kunigund lächelte stolz und beugte sich zu ihrer Hofdame herüber.
»Und wenn unseren Männern heute das Jagdglück hold ist«, flüsterte sie in ihr Ohr, »werden wir genug Fleisch auftischen können.«
»Ja, wenn …«, unkte Maria. »Vielleicht finden sie aber auch nur das, was die räudigen Wölfe übrig gelassen haben, so wie beim letzten Mal.«
Kunigund winkte ab und machte sich auf den Weg, ihrem Gatten Glück zu wünschen. Sie teilte die Skepsis ihrer Hofdame nicht. Der üppige Buchenwald bot reichlich Platz und Futter für Wildschweine und Rehe. Zugegeben, die Wölfe hatten sich in diesem Winter weit vorgewagt, und allzu oft war von stolzen Platzhirschen nur noch der Kadaver übrig geblieben, sehr zum Verdruss des Burgherren. Zudem waren viele Jungtiere zu schwach gewesen, im hohen Schnee der geifernden Rotte zu entkommen. Leider war auch manches Kind der Dörfler vom Holzsammeln nicht zurückgekehrt. Die Ritter hatten die Wölfe erbittert gejagt, aber vertreiben ließen sich die Rudel nicht. Immerhin hatten die Männer, wenn sie ausreiten konnten, oft dafür gesorgt, dass etwas zu essen auf die Tafel kam. Sie würden auch diesmal nicht mit leeren
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