Die Wanifen

musste nur diese Böschung hinunterklettern und dann …
    Plötzlich wurde ihr etwas Pelziges auf die Augen gedrückt. Sie schrie auf und schlug um sich.
    »Wer ist da?«, rief sie und versuchte, sich von dem pelzigen Ding zu befreien, das ihr die Augen zuhielt.
    Ein lautes Lachen erklang, dann konnte sie wieder sehen. Verwirrt fuhr sie herum, und blickte in Gormans feixende Miene.
    »Der Erlkönig«, sagte Gorman grinsend.
    »Musst du dich jedes Mal so anschleichen?«
    »Du musst eben wachsamer sein.«
    Ainwa blickte sich erschrocken um.
    »Was, wenn sie uns sehen? Sie werden es merken, wenn du nicht da bist.«
    »Keine Sorge«, sagte Gorman. »Niemand vermisst mich. Ich stelle gerade einer verletzten Hirschkuh nach.«
    Er deutete hinter sich, wo im Schnee der blutige Körper einer erlegten Hirschkuh lag.
    Sie lächelte unwillkürlich und er erwiderte ihr Lächeln. Sein rotwangiges Gesicht strahlte förmlich.
    »Danke, dass du mir in den vergangenen Nächten Gesellschaft geleistet hast.«
    Ainwa senkte verlegen den Blick. »Ich habe mich gefragt, was du da tust.«
    Gorman neigte den Kopf zur Seite.
    »Ich hab gedacht, du weißt es.«
    »Woher denn?«
    »Erinnerst du dich nicht, was ich dir neulich im Wald versprochen hab?«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Oh. O ja. Du hast gesagt …«
    »… ich würde dir ein mächtiges Geschenk machen.«
    »Daran hast du die ganze Zeit gearbeitet?«
    »Das habe ich«, murmelte er ernst. »Ein Geschenk, das helfen wird, dich zu beschützen.«
    Gorman löste den Gurt, den er um die Schulter trug, und hielt ihr ein langes Etwas hin, das er sorgfältig in Leder eingeschlagen hatte. Ainwa blickte ihn verwirrt an, dann nahm sie es vorsichtig entgegen. Sie legte das Paket bedächtig in den Schnee und rollte das Leder auseinander. Ein mannslanger Bogen und zehn Pfeile, deren Enden mit Adlerfedern befiedert waren.
    »Aber nur dein Vater und Hongar haben einen Bogen! Hast du ihn gestohlen?« Sie biss sich auf die Lippen, als sie in Gormans Gesicht blickte. Offenbar hatte ihn die Bemerkung gekränkt.
    »Ich hab ihn für dich gemacht, Ainwa«, murmelte er betreten.
    Ainwa strich über die glatte Oberfläche des Bogens, die straff gespannte Sehne. Sie hob einen der Pfeile auf und betrachtete ihn.
    »Du hast das alles gemacht? Aber wie …?«
    »Schau.« Gorman kniete sich neben sie in den Schnee und hob den Bogen auf.
    »Eibenholz«, sagte er. Er drückte die beiden Enden des Bogens so fest zusammen, dass Ainwa fürchtete, er würde brechen. »Es ist so biegsam, es verleiht dem Pfeil eine enorme Kraft. Ich habe wochenlang nach dem richtigen Stück gesucht.«
    »Gorman?«
    Er strich über die Sehne.
    »Bei Vaters Bogen ist die Sehne aus Brennnesselfaser, nicht schlecht, aber bei Nässe dehnt sie sich und er muss sie oft ersetzen.« Er tippte sich auf die Stirn. »Ich hab Wisentsehne verwendet, Ainwa, dehnbar, aber reißt nicht.«
    »Gorman …«
    »Warte!« Er nahm ihr den Pfeil aus der Hand und strich begeistert über den glatten Schaft. »Aus dem Holz vom Schneeballstrauch. Es fliegt am besten. Ich hab sie lange geglättet, damit sie in der Luft nicht trudeln und die Spitzen, die hab ich festgebunden und noch mit Birkenpech verklebt, damit sie besser …«
    »Gorman«, unterbrach ihn Ainwa bestimmt und drückte seine Hand mit dem Pfeil nach unten.
    »Wieso willst du mir das schenken? Ich habe noch nie so eine gut gearbeitete Waffe gesehen. Du solltest sie behalten. Es ist die Waffe eines Häuptlings.«
    Gorman schüttelte verständnislos den Kopf.
    »Ich will ihn nicht«, erklärte er bestimmt. »Ich hab ihn für dich gemacht.«
    »Aber ich …«
    »Du musst ihn nehmen!« Er ergriff ihre Hände. »Bitte«, flüsterte er.
    »Ich jage nicht einmal«, murmelte Ainwa und wich seinem Blick aus. »Dieser Bogen ist an mir verschwendet.«
    »Ganz im Gegenteil«, behauptete Gorman. »Ich hab eine Waffe gebaut, die genau zu dir passt. Wenn man mit dem Eibenbogen schießt, geht es nicht um Kraft. Es ist eine schlaue Waffe und sie braucht viel Geschick.«
    »Du weißt ja, wie geschickt ich bin«, erwiderte sie.
    Gorman lächelte.
    »Geschickt genug.«
    »Wieso schenkst du ihn mir?«, fragte sie erneut.
    Gorman wandte sich ein wenig ab, seine Lippen bebten. Nach einer Weile nahm er den Bogen und erhob sich.
    »Siehst du den Baumstumpf dort hinten?«
    Ainwas Blick folgte Gormans ausgestrecktem Arm. Sie kniff die Augen zusammen. Der kleine Baumstumpf musste fast achtzig Schritte entfernt sein.
    »Stell