Die Washington-Akte
ihr Versteck noch nicht verlassen. Wyatt hatte klare Sicht auf die Stelle, wo sie Deckung gesucht hatte. Wahrscheinlich wartete sie auf irgendeine gefunkte Bestätigung von ihren Männern.
Da es diese niemals geben würde, beschloss Wyatt, die Dinge zu beschleunigen.
»Andrea«, rief er.
Keine Antwort.
»Sie können mich hören.«
»Lassen Sie uns über die Sache reden«, sagte sie mit ihrer üblichen ruhigen Stimme. »Kommen Sie raus. Von Angesicht zu Angesicht. Sie und ich.«
Am liebsten hätte er gelacht.
Sie hatte keine Ahnung.
»Okay. Ich komme raus.«
Hale beobachtete, wie der Missetäter versuchte, den Stichen und Stößen der Männer auszuweichen, die ihn umzingelt hatten. Der Gefangene rannte um den Holzpfeiler herum, und die Kerzenflammen tanzten wie er selbst zur Melodie der Geige. Er umklammerte den Pfeiler und drängte sich dicht an ihn, aber Hales Männer zeigten keine Gnade. Das sollten sie auch nicht. Dieser Mann hatte ihr Refugium angegriffen. Er gehörte zu den Feinden, die versuchten, sie alle ins Gefängnis zu bringen. Das hatte Hale jedem seiner Leute klargemacht, und sie hatten verstanden, was ihre Pflicht war.
Einer der Männer stieß mit seiner Schaufel zu, und ein schmatzendes Geräusch zeigte, dass das geschärfte Stahlblatt tief eingedrungen war. Der Missetäter machte einen Satz nach vorn, presste die Hand auf den linken Oberschenkel und taumelte in dem Versuch, seinen Angreifern auszuweichen, um den Pfeiler herum. Hale hatte seine Leute ermahnt, nicht zu schnell mit dem Gefangenen Schluss zu machen. Das war das Besondere an der Schwitzkur. Sie konnte so lange dauern, wie der Kapitän es wünschte.
Blut sickerte zwischen den Fingern hervor, die der Gefangene auf die Wunde gepresst hatte, und besudelte seine Hose.
Wachs tropfte von den Kerzen. Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn des Opfers. Hale hob Einhalt gebietend die Hand.
Die Musik verstummte.
Seine Männer hörten auf, den Gefangenen zu quälen.
»Sind Sie jetzt bereit, meine Frage zu beantworten?«, fragte Hale.
Der Missetäter schnappte keuchend nach Luft. » NIA «, sagte er schließlich.
Genau wie Hale vermutet hatte.
Er zeigte auf einen der Männer, der ein Messer in der Hand hielt. Zwei weitere ließen ihr Werkzeug fallen, packten den Verletzten bei Armen und Schultern und zwangen ihn auf die Knie nieder. Ein dritter griff dem Gefangenen in den Haarschopf und kippte seinen Kopf nach hinten. Der Mann mit dem Messer trat heran und trennte mit einem einzigen Schnitt das rechte Ohr des Gefangenen ab.
Ein Heulen erfüllte das Gefängnis.
Hale trat hinzu, nahm das Ohr entgegen und befahl: »Öffnet ihm das Maul.«
Sie taten wie geheißen.
Hale stopfte dem Mann das Ohr trotz des Widerstands von Zähnen und Zunge in den Mund.
»Friss das«, sagte er, »oder ich schneide dir das andere auch noch ab.«
Der Mann riss bei dieser Vorstellung in Panik die Augen auf.
»Kau das«, schrie Hale.
Der Mann schüttelte den Kopf und schnappte gurgelnd nach Luft.
Hale gab seinen Leuten einen Wink, und sie ließen den Mann los.
Er hob die Pistole, die er in der Hand hielt, und schoss dem Gefangenen ins Gesicht.
Cassiopeia hatte schon früher Menschen sterben sehen, aber trotzdem wurde ihr von dem Schauspiel übel. Auch Stephanie war sicherlich einiges gewöhnt. Aber Shirley Kaiser war offensichtlich noch nie Zeugin eines Mordes geworden. Cassiopeia nahm wahr, wie Kaiser aufkeuchte und sich dann abwandte.
Stephanie bot ihr Trost.
Cassiopeia hielt den Blick auf Hale gerichtet. Er starrte sie durch das Gitter hindurch an und deutete mit der Pistole auf sie.
»Jetzt, meine Kleine, sind Sie an der Reihe, Fragen zu beantworten.«
77
Er war ein hochgewachsener, magerer Mann mit einem schwarzen Bart, den er lang trug und mit Bändern zusammengebunden hatte. Über seinen breiten Schultern hing ein Gurt mit zwei Pistolen. Er war intelligent, ein politisch gewiefter Mann von großer Kühnheit. Keiner kannte seinen richtigen Namen. Vielleicht Thatch? Oder Tache? Er entschied sich für Edward Teach, aber was in der Erinnerung haften blieb, war sein Spitzname.
Blackbeard – Schwarzbart.
Er war in Bristol geboren, aber auf den Westindischen Inseln aufgewachsen und hatte während des Spanischen Erbfolgekriegs auf Seiten von Kaperfahrern gekämpft, die von Jamaika aus agierten. Danach siedelte er auf die Bahamas über, schloss sich dem Piraten Hornigold an, erlernte das Handwerk und bekam schließlich ein eigenes Schiff. Im
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