Die Wasser des Mars
und, wenn es hoch kommt, drei Stunden Zeit habe.
Sollte es einen Menschen auf der Erde geben, der Tag und Stunde seines Todes genau kennt und nicht trotzdem hofft, wider alle Vernunft hofft, daß sich sein Wissen als Irrtum herausstellt, so gilt diesem Menschen meine Hochachtung. Ich reiche nicht an ihn heran.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Laser, dem letzten der vorigen Generation. Während des Gespräches ruhte Laser in einer Netzmatte, die mit ihren beiden Enden an zwei einander gegenüberliegenden Wänden der Kabine befestigt war. Seit der aus der Rotation resultierende Schwerkraftersatz bei der Havarie vor rund zweihundert Jahren ausfiel, gibt es keine Betten mehr auf unserem Raumschiff. Selbst die Begriffe »oben« und »unten« sind sinnlos geworden.
Das Netz hielt Laser senkrecht, aber bei uns bedeutet »senkrecht« lediglich quer zur Achse der Korona.
Fred Laser war schon sehr alt, zumindest für unsere Begriffe. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer hohen, klaren Stirn, die durch schneeweißes Haar begrenzt wurde. Ich sehe ihn vor mir, als sei er erst gestern gestorben.
Er hatte um die Unterredung gebeten, nachdem ich zum Kommandanten gewählt worden war. Seine Stimme war leise, seine Augen waren bereits vom Tode gezeichnet.
»Ich bin der letzte der alten Generation, Stasch«, sagte er müde. »Wir leben nicht lange unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit. Weißt du, wie alt ich bin?«
Ich zuckte die Schultern. Nie hatte ich mich dafür interessiert, wie alt Laser war, aber ich wußte, daß keiner von uns anderen sein Alter erreichen würde, auch ich nicht.
»Ich bin nur wenig über fünfzig, Stasch. Und schon jetzt ist die Zeit gekommen, da ich die Leitung der Expedition in deine Hände legen muß«, fuhr er fort, und mir kam der Gedanke, daß die Alten größere Worte wählen als wir Jungen. Ich begann mit einem längeren Gespräch zu rechnen.
»Wir werden schon mit dreißig sterben, Fred«, murmelte ich, ohne zu bedenken, daß ich ihn damit herausfordern mußte. Tatsächlich versuchte er seinen gebeugten Körper aufzurichten, um ein letztes Mal. Heldentum zu beweisen. Stellen Sie sich einen alten Mann vor, den nicht die Last seiner Jahre, sondern die Sehnen, denen die verkümmerten Muskeln keinen Widerstand mehr leisten können, krumm gezogen haben und der plötzlich verzweifelt versucht, sich den Anschein von Größe zu geben. Einen Augenblick lang fühlte ich Scham, aber sie wurde schnell von jugendlicher Ablehnung dieses sinnlosen Heroismus abgelöst.
»Wir sterben nicht vergeblich, Stasch«, flüsterte er. »Du nicht und ich auch nicht. Wir bringen der Menschheit eines der größten Geschenke, das sie jemals erhalten kann. Vielleicht würden Jahrtausende vergehen, ehe ihr eine ähnliche Chance geboten wird, Stasch. Unser Tod wird von einer der größten Taten, die Menschen je vollbracht haben, überstrahlt sein. Dafür zu sterben sollte nicht Leid, sondern höchstes Glück für diejenigen sein, die als Boten dieses Geschenk überbringen dürfen.«
Ich hoffe, daß er damals nicht sah, wie ich das Gesicht verzog. Ich mochte diese Worte nicht. Worte wie Heldentum, Heroismus oder höchstes Glück waren mir einfach zu groß. Natürlich hatten alle, die an der Chronik geschrieben hatten, an diese Worte und an das, was sie ausdrückten, geglaubt, aber sie alle hatten gewußt, daß ihr Leben zu Ende gehen würde, ehe unsere Expedition die Sonne erreicht.
Wer ist überhaupt diese anonyme Menschheit, deren ethische Ausstrahlung so weit reicht, daß unsere Vorfahren noch nach Generationen eine geradezu übermenschliche Kraft aus den Gedanken an sie schöpften? War eine so gewaltige Menschheit überhaupt auf die Ergebnisse unserer Forschungsarbeiten angewiesen?
Ich vermute, daß man mir meine Meinung vom Gesicht ablesen konnte. Laser schüttelte langsam und müde den Kopf. »Stasch, Stasch«, murmelte er. »Ich kenne deine Gedanken. Aber du mußt sie besiegen, wenn ihr nicht alle verrückt werden wollt. Du bist jetzt der Kommandant. Auf dich blicken die anderen. Ihr müßt unser Werk zu Ende führen.«
Ich nickte ihm zu. Natürlich würden wir das. Was blieb uns anderes übrig, aber…
»Aber wozu die großen Worte, Fred? Warum tun wir so, als sei unser unvermeidlicher Tod etwas, das uns unsterblich macht, etwas, das wir als Glück empfinden können? Wozu, Fred?«
Vielleicht war ich etwas laut geworden. Vermutlich hatte ich auch Gedanken geäußert, die er sich selbst schon vorgelegt
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